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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Aldanov, Mark A.: England und Engländer heute
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0159

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Ich bitte, die wörtliche Übersetzung dieses Satzes zu entschuldigen, aber zu
fein ist die Gleichzeitigkeit des Wortes „Kanaille" mit dem höflichen Komparativ
„eher" und der englischen Fragewiederholung am Schluß des Satzes.
„Nein, Sir, das ist ein ungewöhnlicher Mensch", wiederholt fest der Redner,
ohne sich im geringsten beleidigt zu fühlen, und sogar, ohne verwundert zu sein.
Seine Augen sind glasig.
Im selben Hyde Park. Ein älterer Herr reitet langsam vorüber. „Tausend Rubel
das Pferd, der Reiter aber unbezahlbar", sagt in „Krieg und Frieden" über das
Reiten Nikolai Rostovs der höfliche Kammerdiener seines Vaters. Wer ist dieser
hagere Riese? Ein Feldmarschall a. D.? Auch das Gesicht kommt mir bekannt
vor, obwohl ich ihn sicherlich nie gesehen habe: so typisch ist das Antlitz des alten
England — Rule Britania.
Jetzt klagen in London alle Menschen, stöhnen und kürzen ihre Ausgaben. Der
Graf Harwood, einer der reichsten Menschen des Landes, verkaufte in diesen
Tagen „wegen Mangels an Mitteln" sein Schloß. Vor den Wahlen sagten alle:
England geht vor die Hunde. Wenn man einigen Zeitungen glauben soll, so geht es
den Reichen fast schlechter als den Arbeitslosen. Machen wir die übliche Korrek-
tur: die Reichen weinen, damit es den Armen nicht so bitter vorkommt. So wie ein
Neger, wenn seine Frau gebärt, sich neben sie legt und kläglich vor Schmerz heult:
der Frau wird es davon halt leichter. Aus gewissen Gründen ist es mir nicht
möglich, das Schicksal des Grafen Harwood besonders zu bemitleiden. Doch
machen wir auch hier, höflicherweise, eine Korrektur: geben wir zu: es ist bei
weitem nicht alles so glücklich in der Welt der Reichen. „Steckt in die Tasche
euren Kummer und lächelt, lächelt, lächelt . . ." Aber nicht allzusehr lächeln die
Menschen, die an einem Tage den zehnten Teil ihres Vermögens und auch mehr,
ohne sichtlichen Grund, verlieren: weder mit ihrem Unternehmen noch mit der
Welt ist an diesem Tage etwas geschehen.
Es liegt etwas Beruhigendes in dieser Hyde-Park-Erscheinung. Was für ein
Pferd! Welche unerschütterliche Ruhe auf dem Gesicht des Reiters ! Welche feste
Überzeugung, daß man morgen, übers Jahr und bis ans Lebensende einen eng-
lischen Vollbluthengst haben wird, ein sicheres Konto auf der Bank, tadellose
Ordnung im Hyde Park, einen Überfluß prächtiger Sachen in den Geschäften
(„Seid Engländer, kauft Englisches"). Gibt es wirklich irgendwo Revolution?
Hören wirklich zwei Schritt von hier düstere Arbeitslose einem halbverrückten
Verehrer Sir Oswald Mosleys zu? Das Aussehen des Reiters bezeugt, daß das
System Coues gänzlich unnötig ist. Bei ihm geht auch ohne Coue alles ausge-
zeichnet: von Tag zu Tag besser und besser.
Bewundernswert ist dies „vor die Hunde gehende" England!
(Deutsch von Woldemar Klein)
Copyright by Carl Hanser Verlag, München, 1932.

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