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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Rothe, Hans: Automobil und Geselligkeit auf der Insel
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0176

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geladen, von 4 Uhr 15 bis 6 Uhr 30, oder aufs Land von Freitag abend bis Montag
früh. Es genügt, mit jemandem ein paar flüchtige Worte gewechselt zu haben, um
für das ganze Leben erklären zu können, daß man sich „kenne". (Wahrscheinlich
hat man herausgefunden, daß langes Reden und „Seelengemeinschaft" zu unerfreu-
licheren Erfahrungen führt als ein Gespräch übers Wetter.) Wie es darauf an-
kommt, an einer Kathedrale vorbeigesaust zu sein, so ist es im geselligen Leben
nur wichtig, dagewesen zu sein. Mit wenig Übung kann man es einrichten, am
gleichen Nachmittag mehrere Teegesellschaften zu erledigen. Die hervor-
stechendste Eigenschaft solcher Geselligkeiten ist — auch wenn sie abends statt-
findet —, daß niemand Notiz vom andern nimmt, falls man sich nicht kennt oder
einander vorgestellt wird. „Nice" ist es aber im allgemeinen nur, wenn zweihun-
dert und mehr Menschen auf einmal eingeladen sind. Man kann dann unmöglich
vom Gastgeber verlangen, daß er seine Gäste kennt, zumal den Eingeladenen das
Recht zusteht, ihre eigenen Gäste, die etwa grade bei ihnen wohnen, mitzu-
bringen. Man wird zwar auf das liebenswürdigste begrüßt, aber bei der Suche
nach Bekannten und Nahrung ist man sich selbst überlassen. Jeder übersieht den
andern mit eindringlichster Liebenswürdigkeit. Es ist oft genug vorgekommen,
daß Leute, die einen Frack besitzen und in diesem Frack gute Figur machen
— zwei Forderungen, die fast jeder Engländer erfüllt —, daß solche Leute zu
großen Diners, zu Hochzeitsfeiern erschienen sind, ohne eingeladen zu sein, daß
sie sich an Speise und Trank reichlich erlabten, und daß es niemandem einfiel,
sich irgendwie um sie zu bekümmern. Neuerdings sind für große Geselligkeiten
Eintrittskarten eingeführt, die man dem Butler vorweisen muß, aber kein eng-
lischer Butler wird einem Gentleman — falls er so aussieht — den Eintritt ver-
wehren, der etwa leichthin erklärt, seine Karte vergessen zu haben. Bei der Fülle
der Veranstaltungen kann man sich auf diese Weise leicht ohne Nahrungssorgen
durch einen Krisenwinter hindurchbugsieren.
Es gehört zur Bildung und Erziehung, alles herrlich zu finden. Wenn man
jemanden in irgendein gleichgültiges Kino einlädt, dann muß man schon sehr
gut mit ihm bekannt sein, ehe der Eingeladene zugibt, daß er sich gelangweilt
habe. Werturteile holt man nur aus Freunden heraus, unaufgefordert bekommt
man sie kaum je zu hören. Über alle Menschen sagt man so lange Gutes, bis das
Gegenteil ausdrücklich erwiesen ist. Jeder ist a priori „nice". Auf diese Weise
hofft man, sich vieles Nachdenken über seine Nächsten zu erspraen.
Man wundert sich in Deutschland immer wieder über die Fülle der englischen
Theater, und über die animierte Stimmung, die im Haus vor dem Aufgehen des
Vorhangs herrscht. Man vergißt dabei, daß der Engländer in erster Linie ins
Theater geht, um einen Abend zu verbringen. Man ist in der Wahl seiner Ver-
gnügungen im allgemeinen sehr anspruchslos. Es genügt die Tatsache, sich mit
vielen, meist gut angezogenen und gut aussehenden Menschen, die man nicht zu
grüßen und anzureden braucht, im gleichen Raum aufzuhalten, um Entspannung
und Behaglichkeit zu verspüren. Das zufällig aufgeführte Stück spielt dabei eine
untergeordnete Rolle. Man muckt höchstens auf, wenn es zu kompliziert ist —
high-brow ist der Fachausdruck, hergeleitet von der hochgezogenen Braue des
Snobs und Ästheten. Shakespeare gilt als high-brow.
Es gibt eine englische Zeitschrift, deren Titel die Stellung des eng-

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