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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Eliat van de Velde, Helene: Leifaden für Emigranten
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0195

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wie er sich oder anderen etwas kaufen kann. Im fremden Land ist er ein Neu-
geborenes, aber ohne Familie und das Wohlwollen, das kleine Kinder genießen.
Kann ein Mann, trotz der erbitterten Schwierigkeiten, eine Arbeit im Ausland
finden, so faßt er schneller Wurzel. Männer ziehn in fremde Erdteile, aber immer
bleiben sie in der vertrauten Welt von Angebot und Nachfrage. Überall erwarten
sie lieblich gescheitelte Sekretärinnen, beim zarten Geläut der Schreibmaschinen.
In Frankreich rufen sie „Allö" ins Telefon, in England sagen sie „Oh" statt Null,
und schon sind sie international angepaßt. Sie tragen ihre Berufe wie Vereins-
abzeichen. Jede verwandte Innung empfängt sie mit bereitwillig geöffnetem
Schnellhefter für ihr „Geehrtes".
Will der Mann sich dem Genuß zuwenden, so hat er noch weniger Schwierig-
keiten. Aber welch ein Irrtum, zu glauben, daß Genuß Vergnügen ist. Dauernden
Erfüllungen ausgesetzt zu sein, ist das Anstrengendste was es gibt. Andererseits
fehlen in der Fremde die Bindungen, die jeder vom ersten Atemzug an im Vater-
land erwirbt, Bindungen, die, nicht geachtet und häufig lästig, das Leben trotzdem
vertraut machen, weil sie dessen unübersehliches Ausmaß in zahllose kleine
Pflicht- und Gewohnheitsstationen aufteilen. Auf dem Heimatsboden kann der
Mensch seinen Daseinsgang beruhigt von einer Bindung zur andern abschreiten,
ohne Gefahr, in die schreckliche Leere der Freiheit zu fallen.
Am meisten leiden die auswandernden Frauen. Sie sind konservativ, und bei
aller Abenteuerlust suchen sie etwas ganz Neues, das genau dem Altgewohnten
entspricht. Überall hin schleppen sie den Rahmen früherer Erwartungen, der dann
inhaltlos vor dem neuen Horizont steht. Sie leben mit zerrissener Seele und
einigen Kissen und Aschenschälchen von „zu Haus". Sie hocken neben einem
Telefon, das stumm bleibt. Die von Freude oder Kummer erfüllte Seele möchte
sich ergießen, aber keine vertraute Nummer verspricht einen verständnisvollen
Empfänger. Ein junges Ehepaar wurde nach Florenz versetzt, viel beneidet vom
ganzen Freundeskreis. „So eine schöne Stadt", sagte man, „das herrliche Klima,
billiges Leben." Die junge Frau aber fragte verzweifelt: „Wen soll ich denn dort
früh morgens antelefonieren?"
Die vertrauten Bindungen, ebenso wie die Meinung der andern, „das, was der
Nachbar von einem hält", sind ein Besitz, der in keine Währung umzuwechseln ist.
Man wird in der Heimat bestätigt, ohne demonstrieren zu müssen, und lebt aus
den Kräften eines Motors, der von der Achtung gespeist wird, die unsere Person
genießt. Es müssen in der Fremde neue Bindungen geschaffen werden, um das
Leben dort erträglich zu gestalten. Man konstruiert Luftschlösser, wenn zuvor
nicht der notwendige Boden unter das neue Lebensstück geschafft wird, eine
neue Idee neuen Lebensinhalt gibt. Aber schon Horaz klagt: den Himmel, nicht
den Geist wechseln die, die über das Meer fahren...
Unterdessen geht, allen Schreckensprognosen zum Trotz, das Leben in der
Heimat weiter, erhält sich auf unbegreifliche Weise, wie das Öllämpchen der
Muttergottes. Der Grund dafür ist vielleicht die unübersehbare Größe eines
politischen Unglücks. Sein Radius ist so riesenhaft, daß es sich nur langsam
vorwärts bewegen kann.
Ewiger Trost aller Bedrängten, daß die Besiegten dauern, während die Siege
vergehn.

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