Natürlich ist die Zeit auch für Frankreich nicht stehengeblieben, doch von einer
Entwicklung kann man nicht so sehr sprechen als eben von einer Entfernung im
Optischen. Die Parteien lösen einander einfach ab vor den stehengebliebenen
Ideen. Der Kommunismus z. B. hält heute die alte revolutionäre Doktrin aufrecht,
die der „bourgeois-gewordene" Sozialismus immer mehr verläßt, je mehr er sich
in der Kammer bewegt und dort das schrittweise erreicht, was die Umwälzung
immer weniger notwendig macht. Und die Zeit arbeitet eben für die Linke. Da-
durch, daß die ältesten Ideen jeweils verschwinden und die jedesmalige „Rechte"
mit ihnen, scheinen jene anderen nach rechts abzugleiten, die tatsächlich nur
stehengeblieben sind. So sind die linken Republikaner heute zu einer Rechts-
partei geworden, einfach darum, weil zu ihrer Rechten niemand mehr da ist. Die
Marseillaise, das Umsturzlied noch von 1870, ist heute der Protest-Hymnus gegen
die Internationale der Spätergekommenen. Der Jakobiner Clemenceau ist noch
linksradikal im Jahre 1870 — fünfzig Jahre nachher ist er ein reiner Reaktionär
gegenüber den Sozialisten. — Übrigens, sind nicht auch in Deutschland die
studentischen Verbindungen, 1817 im Kampfe gegen den Absolutismus gegründet,
heute bei recht unverändertem Charakter Rechtsorganisationen? Alles ist also
Perspektive.
Dagegen leben die Namen fort, man ist eben ein konservatives Land. Man
konserviert die Revolutionsmystik als Mittel zur Erhaltung und Bezeichnung des
Bestehenden und dessen, was fortbestehen soll. Die „Große Revolution", die
„Menschenrechte", der „Liberalismus", alles das sind seit langem ebenso viele
Anachronismen innerhalb einer von der neuen industriellen Revolution neu-
revolutionierten Lage. Die Liberalen sind reine Reaktionäre, aber stolz bleiben sie
weiterhin auf ihren revolutionären Ursprung aus dem Umsturz; sie wissen, daß
dieser noch heute auf das Volk wirkt. Die Franzosen (d. h. die Politiker in Frank-
reich) retten die Republik einmal wöchentlich, die andern sechs Tage leben sie
von ihr. Das Schlagwort Republik reicht für alles hin, nur nicht für sich selber.
Darin hat Sieburg wohl recht: Frankreich hat die Revolution gemacht — um sie
dann nachher in seinem Öl zu konservieren.
Natürlich bedeutet „Republik" für die Linke heute nicht den bloßen Nicht-
bestand einer Monarchie; der Begriff wäre auch gar zu leer. Die Radikalen sind
damit beschäftigt, die andern Republikaner, Leute vom reinsten Wasser der
Republik-Gründer, zu Reaktionären zu stempeln. Den Radikalen ist die Idee der
Republik eben eine solche des Fortschritts, die res publica immer an der Spitze
der Situation. Aber sie klammern sich dabei an den Grundirrtum der sogenannten
Menschenrechte, einer Erklärung, die ganz in der damaligen agrarischen, „physio-
kratischen", Lage wurzelte. Sie glauben an den notwendigen Fortbestand von
„Senat" und „Präsidentschaft der Republik", welches letztere Vorsitz-Organ
Clemenceau bekanntlich für „ein Ding, so überflüssig wie die gewisse Vorsteher-
drüse" ansprach. (Clemenceau wollte freilich die Verglichene erwerben, vielleicht
als Ersatz für den Vergleichsgegenstand...)
In Frankreich ist bekanntlich nichts von Dauer als das Provisorium. Die Ver-
fassung besteht noch heute aus zwei — einst durch eine Zufallsmehrheit einer
einzigen Stimme und mit Hilfe der Monarchisten beschlossenen — Grund-
gesetzen. Die 1793 vom Wohlfahrtsausschuß als Augenblicksmaßnahme gedachte
160
Entwicklung kann man nicht so sehr sprechen als eben von einer Entfernung im
Optischen. Die Parteien lösen einander einfach ab vor den stehengebliebenen
Ideen. Der Kommunismus z. B. hält heute die alte revolutionäre Doktrin aufrecht,
die der „bourgeois-gewordene" Sozialismus immer mehr verläßt, je mehr er sich
in der Kammer bewegt und dort das schrittweise erreicht, was die Umwälzung
immer weniger notwendig macht. Und die Zeit arbeitet eben für die Linke. Da-
durch, daß die ältesten Ideen jeweils verschwinden und die jedesmalige „Rechte"
mit ihnen, scheinen jene anderen nach rechts abzugleiten, die tatsächlich nur
stehengeblieben sind. So sind die linken Republikaner heute zu einer Rechts-
partei geworden, einfach darum, weil zu ihrer Rechten niemand mehr da ist. Die
Marseillaise, das Umsturzlied noch von 1870, ist heute der Protest-Hymnus gegen
die Internationale der Spätergekommenen. Der Jakobiner Clemenceau ist noch
linksradikal im Jahre 1870 — fünfzig Jahre nachher ist er ein reiner Reaktionär
gegenüber den Sozialisten. — Übrigens, sind nicht auch in Deutschland die
studentischen Verbindungen, 1817 im Kampfe gegen den Absolutismus gegründet,
heute bei recht unverändertem Charakter Rechtsorganisationen? Alles ist also
Perspektive.
Dagegen leben die Namen fort, man ist eben ein konservatives Land. Man
konserviert die Revolutionsmystik als Mittel zur Erhaltung und Bezeichnung des
Bestehenden und dessen, was fortbestehen soll. Die „Große Revolution", die
„Menschenrechte", der „Liberalismus", alles das sind seit langem ebenso viele
Anachronismen innerhalb einer von der neuen industriellen Revolution neu-
revolutionierten Lage. Die Liberalen sind reine Reaktionäre, aber stolz bleiben sie
weiterhin auf ihren revolutionären Ursprung aus dem Umsturz; sie wissen, daß
dieser noch heute auf das Volk wirkt. Die Franzosen (d. h. die Politiker in Frank-
reich) retten die Republik einmal wöchentlich, die andern sechs Tage leben sie
von ihr. Das Schlagwort Republik reicht für alles hin, nur nicht für sich selber.
Darin hat Sieburg wohl recht: Frankreich hat die Revolution gemacht — um sie
dann nachher in seinem Öl zu konservieren.
Natürlich bedeutet „Republik" für die Linke heute nicht den bloßen Nicht-
bestand einer Monarchie; der Begriff wäre auch gar zu leer. Die Radikalen sind
damit beschäftigt, die andern Republikaner, Leute vom reinsten Wasser der
Republik-Gründer, zu Reaktionären zu stempeln. Den Radikalen ist die Idee der
Republik eben eine solche des Fortschritts, die res publica immer an der Spitze
der Situation. Aber sie klammern sich dabei an den Grundirrtum der sogenannten
Menschenrechte, einer Erklärung, die ganz in der damaligen agrarischen, „physio-
kratischen", Lage wurzelte. Sie glauben an den notwendigen Fortbestand von
„Senat" und „Präsidentschaft der Republik", welches letztere Vorsitz-Organ
Clemenceau bekanntlich für „ein Ding, so überflüssig wie die gewisse Vorsteher-
drüse" ansprach. (Clemenceau wollte freilich die Verglichene erwerben, vielleicht
als Ersatz für den Vergleichsgegenstand...)
In Frankreich ist bekanntlich nichts von Dauer als das Provisorium. Die Ver-
fassung besteht noch heute aus zwei — einst durch eine Zufallsmehrheit einer
einzigen Stimme und mit Hilfe der Monarchisten beschlossenen — Grund-
gesetzen. Die 1793 vom Wohlfahrtsausschuß als Augenblicksmaßnahme gedachte
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