Poincare in der Pariser Wochenschau
Von
M. Aldanov
Poincare bei sich zu Hause in Lothringen. Es wird eifrig geklatscht. Man fühlt
die allgemeine, so verständliche Stimmung im Kinosaal : Wie schade, daß er nicht
mehr arbeitsfähig ist!
Das ist wirklich eine große Tragödie. Poincare war der arbeitsfähigste Mensch
der Welt. In einem seiner Jugendgedichte spricht er von dem „verhaßten Nichtstun",
— ziemlich ungewöhnliche Worte im Munde eines fünfzehnjährigen Gymnasiasten.
Ruhe war ihm das ganze Leben lang verhaßt. Noch im Alter von achtundsechzig
Jahren schrieb er sieben Reden an einem Tag, und er hielt sie ganz wortgetreu, ohne
in das Manuskript zu blicken. Seine Antwortnote an die britische Regierung im
August 1923 schrieb Poincare eigenhändig von der ersten bis zur letzten Zeile an
einem Tage — sie hatte einen Umfang von zwei Druckbogen. Die Note Lord Curzons,
die er Punkt für Punkt beantwortete, wurde im Verlauf mehrerer Wochen zusammen-
gestellt, und der britische Minister konnte sich vor Verwunderung nicht fassen, als
er die Antwort schon nach vierundzwanzig Stunden erhielt. Sonntags reiste Poincare
— um seine Erinnerungsreden zu halten — stets mit der Eisenbahn, weil man, wie
er sagte, „im Auto nur schwer schreiben könne". Wenn seine Frau mit ihm reiste,
so zahlte er das Billett für sie, obwohl ihm ein Salonwagen zur Verfügung stand:
im Gesetz ist nichts von einem Freibillett für die Frau eines Ministerpräsidenten
gesagt. Aus dem gleichen Grund schickte er sämtliche Geschenke, die er als Präsident
der Republik erhielt, zum Verkauf — den Armen zum Nutzen : im Gesetz ist nichts
davon gesagt, daß der Präsident der Republik Geschenke zu erhalten hat.
Vielleicht zeigt sich schon darin der hauptsächlichste politische Mangel dieses
bemerkenswerten, musterhaft ordentlichen, in vielerlei Hinsicht unersetzbaren
Menschen. Er erfüllte alle seine Pflichten — forderte aber dasselbe auch von den
andern. Deutschland erfülle nicht seine Pflicht — und so sprach er jeden Sonntag
von der „mauvaise foi de l'Allemagne" und schickte zuletzt den Gerichtsvollzieher
in die Ruhr. Europa konnte zugrunde gehn, aber „la mauvaise foi de l'Allemagne"
mußte klar erwiesen werden ...
Seine Reden sind an Klarheit des Aufbaus, an logischer Kraft, an juristischer
Begründung — Muster an Vollkommenheit. Der politische Wert ist geringer:
Poincare ist von Natur streitsüchtig — ein großer Fehler für einen Staatsmann.
Aber der Mißerfolg der Politik Poincares wäre deutlicher, wenn die ihr entgegen-
gesetzte Politik bessere Resultate gezeitigt hätte.
Die seltsamsten Worte von Poincare sollen auf einem Frühstück der Academie
Goncourt gesprochen worden sein: „Während meines ganzen Lebens habe ich
nichts getan; ich habe niemals gewagt. Auch jetzt tue ich nichts, denn ich weiß
nicht, im Namen welcher Idee ich handeln sollte."
Ich glaube, wenn man sich bemühen würde festzustellen, wer diese Worte nicht
gesagt haben könnte — so würde man in erster Linie den Namen Poincare nennen.
(Deutsch von Woldemar Klein)
165
Von
M. Aldanov
Poincare bei sich zu Hause in Lothringen. Es wird eifrig geklatscht. Man fühlt
die allgemeine, so verständliche Stimmung im Kinosaal : Wie schade, daß er nicht
mehr arbeitsfähig ist!
Das ist wirklich eine große Tragödie. Poincare war der arbeitsfähigste Mensch
der Welt. In einem seiner Jugendgedichte spricht er von dem „verhaßten Nichtstun",
— ziemlich ungewöhnliche Worte im Munde eines fünfzehnjährigen Gymnasiasten.
Ruhe war ihm das ganze Leben lang verhaßt. Noch im Alter von achtundsechzig
Jahren schrieb er sieben Reden an einem Tag, und er hielt sie ganz wortgetreu, ohne
in das Manuskript zu blicken. Seine Antwortnote an die britische Regierung im
August 1923 schrieb Poincare eigenhändig von der ersten bis zur letzten Zeile an
einem Tage — sie hatte einen Umfang von zwei Druckbogen. Die Note Lord Curzons,
die er Punkt für Punkt beantwortete, wurde im Verlauf mehrerer Wochen zusammen-
gestellt, und der britische Minister konnte sich vor Verwunderung nicht fassen, als
er die Antwort schon nach vierundzwanzig Stunden erhielt. Sonntags reiste Poincare
— um seine Erinnerungsreden zu halten — stets mit der Eisenbahn, weil man, wie
er sagte, „im Auto nur schwer schreiben könne". Wenn seine Frau mit ihm reiste,
so zahlte er das Billett für sie, obwohl ihm ein Salonwagen zur Verfügung stand:
im Gesetz ist nichts von einem Freibillett für die Frau eines Ministerpräsidenten
gesagt. Aus dem gleichen Grund schickte er sämtliche Geschenke, die er als Präsident
der Republik erhielt, zum Verkauf — den Armen zum Nutzen : im Gesetz ist nichts
davon gesagt, daß der Präsident der Republik Geschenke zu erhalten hat.
Vielleicht zeigt sich schon darin der hauptsächlichste politische Mangel dieses
bemerkenswerten, musterhaft ordentlichen, in vielerlei Hinsicht unersetzbaren
Menschen. Er erfüllte alle seine Pflichten — forderte aber dasselbe auch von den
andern. Deutschland erfülle nicht seine Pflicht — und so sprach er jeden Sonntag
von der „mauvaise foi de l'Allemagne" und schickte zuletzt den Gerichtsvollzieher
in die Ruhr. Europa konnte zugrunde gehn, aber „la mauvaise foi de l'Allemagne"
mußte klar erwiesen werden ...
Seine Reden sind an Klarheit des Aufbaus, an logischer Kraft, an juristischer
Begründung — Muster an Vollkommenheit. Der politische Wert ist geringer:
Poincare ist von Natur streitsüchtig — ein großer Fehler für einen Staatsmann.
Aber der Mißerfolg der Politik Poincares wäre deutlicher, wenn die ihr entgegen-
gesetzte Politik bessere Resultate gezeitigt hätte.
Die seltsamsten Worte von Poincare sollen auf einem Frühstück der Academie
Goncourt gesprochen worden sein: „Während meines ganzen Lebens habe ich
nichts getan; ich habe niemals gewagt. Auch jetzt tue ich nichts, denn ich weiß
nicht, im Namen welcher Idee ich handeln sollte."
Ich glaube, wenn man sich bemühen würde festzustellen, wer diese Worte nicht
gesagt haben könnte — so würde man in erster Linie den Namen Poincare nennen.
(Deutsch von Woldemar Klein)
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