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La Bagatelle“
Unterhaltung mit einer Pariser Modistin
Von
Schi
Unter „La Bagatelle" versteht der baedekerbelesene Paris-Besucher ohne
weiteres das berühmte Jagdschlößchen im Bois de Boulogne, das der ritter-
liche Schwager der Marie Antoinette ihr innerhalb weniger Wochen an die Stelle
hatte zaubern lassen, an der sie beim Jagen einen Rastplatz vermißt hatte. Hier sei
unter „Bagatelle" etwas anderes verstanden.
Ferner ist noch vorauszuschicken: im allgemeinen ist die junge Pariserin das
behütetste und zurückhaltendste junge Mädchen, das sich nur denken läßt, von
der Freiheit der jungen Berlinerin so weit entfernt, daß man sie ihr kaum glaubhaft
machen könnte. Ausnahmen bilden darin nur ein kleiner Teil der intellektuellen
Oberschicht und eine vom soliden Arbeiterstand losgelöste Unterschicht; die
Frauen, von denen ich nachstehend spreche, gehören der zweiten Gruppe an.
„Lächerlich, daß Sie ausschließlich von der eigenen Arbeit leben wollen,
keinen Freund haben, der mindestens für Ihren Unterhalt aufkommt. Wie kann
eine Frau so unvernünftig sein?", sagt die Patronne des kleinen Montparnasse-
Hotels zu mir.
„Sehen Sie, da wohnt ein junges Mädchen oben bei mir, das hat seine gut-
zahlenden Freunde durch eine agence bekommen. Eine absolut diskrete Sache."
Im fünften Stock des Hotels, im billigsten Raum des Hauses, aus einer ehe-
maligen Mädchenkammer noch mit knapper Not zum Hotelzimmer hergerichtet,
erwartet mich an der schon geöffneten Tür ein bildhübsches, sehr junges und
frisches Geschöpf. Mit dem harmlosesten und liebenswürdigsten Lächeln in den
wirklich reinen und offenen Zügen, stellt Toutou sich vor und bittet mich, auf
dem Bett, der einzigen Sitzgelegenheit im Raum, neben ihr Platz zu nehmen. Die
Wirtin hat sie von meinem Interesse verständigt, und sie will mich gern in allem
beraten ... Während der ganzen folgenden Unterredung näht Toutou eifrig mit
den gepflegten Fingerchen an einem fast fertigen lachsfarbenen Unterkleid. Mein
Interesse und mein Verständnis für diese Arbeit entzücken sie, und sie erzählt
mir zunächst, daß sie sich alles, Kleider und Wäsche, selbst näht, obwohl sie
eigentlich Modistin ist. Und sie zeigt mir einen Hut, den sie gerade für eine
Kundin fertiggearbeitet hat.
„Und dieses Blüschen werde ich Sonntag bei meiner Mutter fertignähen,"
„Haben Sie Ihre Mutter denn in Paris? Und wohnen im Hotel?"
„Zu Hause wäre es für meine Kundinnen zu weit, das weiß meine Mutter . ..
. . . Ja, meine Mutter interessiert sich natürlich sehr für meine Arbeit und fragt
immer, ob ich viele Kundinnen habe. Und ich sage ihr, daß ich ganz schön ver-
diene", fügt Toutou, jetzt doch ein wenig pfiffig lächelnd, hinzu.
„Aber ich liebe wirklich meine Arbeit, und nur weil ich unbedingt in einem
Jahre einen eigenen kleinen Salon aufmachen will, habe ich mich dazu entschlossen,
noch auf diese andere Art zu verdienen. In einem Atelier kann man ewig herum-
sitzen und bringt es zu nichts", sagt sie dann wieder ganz ernst. „Und das ist ja
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La Bagatelle“
Unterhaltung mit einer Pariser Modistin
Von
Schi
Unter „La Bagatelle" versteht der baedekerbelesene Paris-Besucher ohne
weiteres das berühmte Jagdschlößchen im Bois de Boulogne, das der ritter-
liche Schwager der Marie Antoinette ihr innerhalb weniger Wochen an die Stelle
hatte zaubern lassen, an der sie beim Jagen einen Rastplatz vermißt hatte. Hier sei
unter „Bagatelle" etwas anderes verstanden.
Ferner ist noch vorauszuschicken: im allgemeinen ist die junge Pariserin das
behütetste und zurückhaltendste junge Mädchen, das sich nur denken läßt, von
der Freiheit der jungen Berlinerin so weit entfernt, daß man sie ihr kaum glaubhaft
machen könnte. Ausnahmen bilden darin nur ein kleiner Teil der intellektuellen
Oberschicht und eine vom soliden Arbeiterstand losgelöste Unterschicht; die
Frauen, von denen ich nachstehend spreche, gehören der zweiten Gruppe an.
„Lächerlich, daß Sie ausschließlich von der eigenen Arbeit leben wollen,
keinen Freund haben, der mindestens für Ihren Unterhalt aufkommt. Wie kann
eine Frau so unvernünftig sein?", sagt die Patronne des kleinen Montparnasse-
Hotels zu mir.
„Sehen Sie, da wohnt ein junges Mädchen oben bei mir, das hat seine gut-
zahlenden Freunde durch eine agence bekommen. Eine absolut diskrete Sache."
Im fünften Stock des Hotels, im billigsten Raum des Hauses, aus einer ehe-
maligen Mädchenkammer noch mit knapper Not zum Hotelzimmer hergerichtet,
erwartet mich an der schon geöffneten Tür ein bildhübsches, sehr junges und
frisches Geschöpf. Mit dem harmlosesten und liebenswürdigsten Lächeln in den
wirklich reinen und offenen Zügen, stellt Toutou sich vor und bittet mich, auf
dem Bett, der einzigen Sitzgelegenheit im Raum, neben ihr Platz zu nehmen. Die
Wirtin hat sie von meinem Interesse verständigt, und sie will mich gern in allem
beraten ... Während der ganzen folgenden Unterredung näht Toutou eifrig mit
den gepflegten Fingerchen an einem fast fertigen lachsfarbenen Unterkleid. Mein
Interesse und mein Verständnis für diese Arbeit entzücken sie, und sie erzählt
mir zunächst, daß sie sich alles, Kleider und Wäsche, selbst näht, obwohl sie
eigentlich Modistin ist. Und sie zeigt mir einen Hut, den sie gerade für eine
Kundin fertiggearbeitet hat.
„Und dieses Blüschen werde ich Sonntag bei meiner Mutter fertignähen,"
„Haben Sie Ihre Mutter denn in Paris? Und wohnen im Hotel?"
„Zu Hause wäre es für meine Kundinnen zu weit, das weiß meine Mutter . ..
. . . Ja, meine Mutter interessiert sich natürlich sehr für meine Arbeit und fragt
immer, ob ich viele Kundinnen habe. Und ich sage ihr, daß ich ganz schön ver-
diene", fügt Toutou, jetzt doch ein wenig pfiffig lächelnd, hinzu.
„Aber ich liebe wirklich meine Arbeit, und nur weil ich unbedingt in einem
Jahre einen eigenen kleinen Salon aufmachen will, habe ich mich dazu entschlossen,
noch auf diese andere Art zu verdienen. In einem Atelier kann man ewig herum-
sitzen und bringt es zu nichts", sagt sie dann wieder ganz ernst. „Und das ist ja
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