Wohnbau für Zeitgenossen
Von
Heinz- Willi Jüngst
die neue Sachlichkeit
ist eine, inzwischen etwas gealterte Erfindung, die sämtliche Errungenschaften
und Vorzüge der gesamten Erde in konzentriertester und praktischer Form
komplett vereinigen will. Sie wurde zu dem Zweck erfunden, um die seit
Jahrtausenden irregeleitete Menschheit einem paradiesischen Dasein näherzu-
führen.
die außenwände
Die Naturverbundenheit des neuen normalisierten Menschentyps erfordert
eine Auflösung der gesamten Außenwände in Glas. Hierdurch wird eine weite
Umgebung mit Licht, Luft und Sonne in das Haus hinein- und ein modernes
Leben in die weite Welt hinausgetragen. Außerdem geht noch ein bißchen Wärme
flöten. Die Ästhetik des modernen Menschen verlangt, daß er zu jeder Tageszeit
im Offenen leben muß und sich niemals, auch nicht bei schlechtem Wetter, von
der Außenwelt abschließen darf. Seit der genialen Erfindung des Glasklosetts
verlangt man auch in schwierigeren Lebenslagen viel Luft. Und der auf Hygiene
dressierte Mensch empfindet es bereits als besondere Freude, wenn er in seinem
Glaskasten mal frieren oder braten darf, und hat seine Augen längst an die Licht-
flut gewöhnt. Er lächelt über die rückständigen Leute, die in ihrem Hause ein
Gefühl der Abgeschlossenheit und häuslichen Sicherheit suchen, und ist glücklich,
wenn er seine vier Pfähle als durchsichtiges Glas und abends als Gardine besehen
kann. Das ganze häusliche Leben spielt sich jetzt auf der Straße ab. Eben weil
heute überall gespart werden muß, kann man am besten bei den Außenwänden
anfangen. Der „letzte Schrei" wird in der „Wohnung für morgen" (Erdgeschoß-
haus von Mies van der Rohe) gezeigt: Die Außenwände sind ganz aufgelöst in
große Schaufenster-Spiegelscheiben, die vom Fußboden bis zur Decke reichen.
Ein Druck auf den Knopf genügt, und der kostbare Bronzerahmen versinkt
mittels Motorantrieb unhörbar in einen massiven Schacht. Man sitzt im Zimmer —
im Freien. Dieses versenkbare Schaufenster ist allerdings für den Warenhausbau
noch etwas zu kostspielig und unpraktisch, doch wird es sich im Einfamilien-
hausbau bald einbürgern. — - Wer Angst vor neugierigen Blicken hat, kann noch
eine Mauer um sein Haus ziehen.
die innenwände
Man hat eingesehen, daß mit den inneren Trennwänden nun auch endlich
mal etwas geschehen muß. In der Kleinstwohnung sucht man aus Sparsamkeits-
gründen möglichst viele Wände unterzubringen, indem man für jedes Bett,
jeden einzelnen Waschtisch und Lokus einen besonderen Raum schafft. Bei der
Doppelgeschoßwohnung im Hochhaus (Architekten haesler und völker) sind
die 5 Betten in fünf getrennten, gleichgroßen Schlafzimmern untergebracht und
die 3 Waschtische und 2 Klosette in je einer Zelle im Obergeschoß. Da aber
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Von
Heinz- Willi Jüngst
die neue Sachlichkeit
ist eine, inzwischen etwas gealterte Erfindung, die sämtliche Errungenschaften
und Vorzüge der gesamten Erde in konzentriertester und praktischer Form
komplett vereinigen will. Sie wurde zu dem Zweck erfunden, um die seit
Jahrtausenden irregeleitete Menschheit einem paradiesischen Dasein näherzu-
führen.
die außenwände
Die Naturverbundenheit des neuen normalisierten Menschentyps erfordert
eine Auflösung der gesamten Außenwände in Glas. Hierdurch wird eine weite
Umgebung mit Licht, Luft und Sonne in das Haus hinein- und ein modernes
Leben in die weite Welt hinausgetragen. Außerdem geht noch ein bißchen Wärme
flöten. Die Ästhetik des modernen Menschen verlangt, daß er zu jeder Tageszeit
im Offenen leben muß und sich niemals, auch nicht bei schlechtem Wetter, von
der Außenwelt abschließen darf. Seit der genialen Erfindung des Glasklosetts
verlangt man auch in schwierigeren Lebenslagen viel Luft. Und der auf Hygiene
dressierte Mensch empfindet es bereits als besondere Freude, wenn er in seinem
Glaskasten mal frieren oder braten darf, und hat seine Augen längst an die Licht-
flut gewöhnt. Er lächelt über die rückständigen Leute, die in ihrem Hause ein
Gefühl der Abgeschlossenheit und häuslichen Sicherheit suchen, und ist glücklich,
wenn er seine vier Pfähle als durchsichtiges Glas und abends als Gardine besehen
kann. Das ganze häusliche Leben spielt sich jetzt auf der Straße ab. Eben weil
heute überall gespart werden muß, kann man am besten bei den Außenwänden
anfangen. Der „letzte Schrei" wird in der „Wohnung für morgen" (Erdgeschoß-
haus von Mies van der Rohe) gezeigt: Die Außenwände sind ganz aufgelöst in
große Schaufenster-Spiegelscheiben, die vom Fußboden bis zur Decke reichen.
Ein Druck auf den Knopf genügt, und der kostbare Bronzerahmen versinkt
mittels Motorantrieb unhörbar in einen massiven Schacht. Man sitzt im Zimmer —
im Freien. Dieses versenkbare Schaufenster ist allerdings für den Warenhausbau
noch etwas zu kostspielig und unpraktisch, doch wird es sich im Einfamilien-
hausbau bald einbürgern. — - Wer Angst vor neugierigen Blicken hat, kann noch
eine Mauer um sein Haus ziehen.
die innenwände
Man hat eingesehen, daß mit den inneren Trennwänden nun auch endlich
mal etwas geschehen muß. In der Kleinstwohnung sucht man aus Sparsamkeits-
gründen möglichst viele Wände unterzubringen, indem man für jedes Bett,
jeden einzelnen Waschtisch und Lokus einen besonderen Raum schafft. Bei der
Doppelgeschoßwohnung im Hochhaus (Architekten haesler und völker) sind
die 5 Betten in fünf getrennten, gleichgroßen Schlafzimmern untergebracht und
die 3 Waschtische und 2 Klosette in je einer Zelle im Obergeschoß. Da aber
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