Zur freundlichen Erinnerung
Von
Tibor Dery
In den sanften bürgerlichen Zeiten der neunziger Jahre liebte man Schwäne,
aß Korinthenbrot, und die wollenen Strümpfe der Damen dufteten nach
Lavendel oder zerriebenen Zitronenschalen. Die Großmütter blickten gütig
lächelnd durch eisenumränderte Brillen. Man glaubte an Metschnikoff und Pro-
fessor Jäger.
Einmal in der Woche wurde gebadet. Fahrzeuge mit heißem Wasser in Fässern
zogen durch die Straßen und boten für billiges Geld ihre Ware feil. Aus den
Fenstern angerufen, hielten sie vor dem Haustor, und die bärtigen Kutscher
brachten, danaidengleich, Wasser in zahllosen Bottichen und einen Badetrog
über die steilen Treppen herauf. Die Köchin fütterte den Trog mit einem blüten-
weißen Leinentuch, in das man sich beim Baden rettungslos mit allen Gliedmaßen
verstrickte, wie in ein Spinnennetz. Spät am Abend holten die Männer die leer-
gebadeten, seifenschaumigen Gefäße ab, wobei sie mit zusammengepreßtem
Mund und leicht gelangweiltem Gesichtsausdruck den Kopf zur Erde neigten.
Man hatte ein Gefühl, als hätten sie unserem körperlichen Dasein die Beichte
abgenommen.
Um diese Zeit, acht Jahre alt, im Sommer, wurde ich in das Sportleben ein-
geführt. Nach der ersten Schwimmstunde in der Badeanstalt öffnete sich meiner
sechs Jahre alten Kusine der lichtblaue Bademantel, und ich sah, wie Frauen
beschaffen sind. Dann ging ich Tee trinken und riß unbekümmert viele Blätter
von den Lorbeersträuchern im Park, um aus ihnen, wenn der Sommer einmal
vorüber sein wird, Öl und Erinnerungen zu pressen.
*
Sport galt um diese Zeit als gefährlich. Gute Turner hatten einen schlechten
Leumund beim Lateinprofessor, und wer Bock und Reck beherrschte, galt für
verrucht. Fußball war fast gleichbedeutend mit Kartenspiel oder verbotener
Liebe; nur die Schlechtesten in der Klasse waren gelenkig. Der Turnlehrer grüßte
die Herren Kollegen weit vorgebeugt mit inferiorem Hutschwung. Er war der
einzige unter ihnen, der keinen Bart trug.
*
Das Zeitalter roch nach Pomade, Hauskost mit viel Einbrenne und einer
penetranten Verehrung von Dichtern und Musikern; Dinge, die der freien Ent-
wicklung des Körpers hinderlich sind. Es gab noch wenig Leute, die der Meinung
waren, daß die Frauenfigur der Fortuna auf einem Medizinball einherrollt, und
keinen, der Mädchenbrüste mit Tennisbällen verglich. Als die Kunde von Eng-
land kam, daß es für die Entwicklung des Geistes, also der Geschäfte, nicht
unbekömmlich sei, den Körper auch unterhalb der Gürtellinie täglich mit kaltem
Wasser abzureiben, gab es ein allgemeines Kopfschütteln, wie bei Erfindung der
Dampflokomotive. Der zart rosafarbene Schleier einer unhygienischen, aber
milden Weltanschauung bekam von der Nachricht ein Loch wie von einem Messer-
hieb. Es war der Anfang des Endes der humanistischen Idee.
*
Sport betrieben nur die Gentry, Grafen, Barone und ein Bierbrauereibesitzer.
Sie setzten im Frühling graue Zylinderhüte auf und fuhren zum Rennen
hinaus, worauf es sofort in Strömen zu regnen begann. Um diesem magischen
388
Gegenüber: Segelflug im Gewitter (Photo Paul Isenfels)
Von
Tibor Dery
In den sanften bürgerlichen Zeiten der neunziger Jahre liebte man Schwäne,
aß Korinthenbrot, und die wollenen Strümpfe der Damen dufteten nach
Lavendel oder zerriebenen Zitronenschalen. Die Großmütter blickten gütig
lächelnd durch eisenumränderte Brillen. Man glaubte an Metschnikoff und Pro-
fessor Jäger.
Einmal in der Woche wurde gebadet. Fahrzeuge mit heißem Wasser in Fässern
zogen durch die Straßen und boten für billiges Geld ihre Ware feil. Aus den
Fenstern angerufen, hielten sie vor dem Haustor, und die bärtigen Kutscher
brachten, danaidengleich, Wasser in zahllosen Bottichen und einen Badetrog
über die steilen Treppen herauf. Die Köchin fütterte den Trog mit einem blüten-
weißen Leinentuch, in das man sich beim Baden rettungslos mit allen Gliedmaßen
verstrickte, wie in ein Spinnennetz. Spät am Abend holten die Männer die leer-
gebadeten, seifenschaumigen Gefäße ab, wobei sie mit zusammengepreßtem
Mund und leicht gelangweiltem Gesichtsausdruck den Kopf zur Erde neigten.
Man hatte ein Gefühl, als hätten sie unserem körperlichen Dasein die Beichte
abgenommen.
Um diese Zeit, acht Jahre alt, im Sommer, wurde ich in das Sportleben ein-
geführt. Nach der ersten Schwimmstunde in der Badeanstalt öffnete sich meiner
sechs Jahre alten Kusine der lichtblaue Bademantel, und ich sah, wie Frauen
beschaffen sind. Dann ging ich Tee trinken und riß unbekümmert viele Blätter
von den Lorbeersträuchern im Park, um aus ihnen, wenn der Sommer einmal
vorüber sein wird, Öl und Erinnerungen zu pressen.
*
Sport galt um diese Zeit als gefährlich. Gute Turner hatten einen schlechten
Leumund beim Lateinprofessor, und wer Bock und Reck beherrschte, galt für
verrucht. Fußball war fast gleichbedeutend mit Kartenspiel oder verbotener
Liebe; nur die Schlechtesten in der Klasse waren gelenkig. Der Turnlehrer grüßte
die Herren Kollegen weit vorgebeugt mit inferiorem Hutschwung. Er war der
einzige unter ihnen, der keinen Bart trug.
*
Das Zeitalter roch nach Pomade, Hauskost mit viel Einbrenne und einer
penetranten Verehrung von Dichtern und Musikern; Dinge, die der freien Ent-
wicklung des Körpers hinderlich sind. Es gab noch wenig Leute, die der Meinung
waren, daß die Frauenfigur der Fortuna auf einem Medizinball einherrollt, und
keinen, der Mädchenbrüste mit Tennisbällen verglich. Als die Kunde von Eng-
land kam, daß es für die Entwicklung des Geistes, also der Geschäfte, nicht
unbekömmlich sei, den Körper auch unterhalb der Gürtellinie täglich mit kaltem
Wasser abzureiben, gab es ein allgemeines Kopfschütteln, wie bei Erfindung der
Dampflokomotive. Der zart rosafarbene Schleier einer unhygienischen, aber
milden Weltanschauung bekam von der Nachricht ein Loch wie von einem Messer-
hieb. Es war der Anfang des Endes der humanistischen Idee.
*
Sport betrieben nur die Gentry, Grafen, Barone und ein Bierbrauereibesitzer.
Sie setzten im Frühling graue Zylinderhüte auf und fuhren zum Rennen
hinaus, worauf es sofort in Strömen zu regnen begann. Um diesem magischen
388
Gegenüber: Segelflug im Gewitter (Photo Paul Isenfels)