Ruf von so nahen Elementen der Revolution haben kann. Und doch bleibt Deutsch-
land unserer eigenen westlichen Völkerfamilie durch ein starkes Band verbunden:
Deutschland widersteht jenen Kräften!
Von diesem Gesichtspunkt kann man, so meine ich, die Entwicklung Deutsch-
lands in der Zeit seit 1918 am besten verstehen. Das Land hat in sich nicht alle die
Kräfte eines geistigen Wiederaufbaues gefunden, die einer Zivilisation von mehr
ausgeglichener Struktur, wie etwa der französischen, zur Verfügung stehen. Wir
verdanken sie unseren römischen Traditionen, dem Gegensatz zur Unbestimmbar-
keit alles Germanischen. Eine solche Auffassung mag übertrieben scheinen, und
man hat vor dreißig Jahren freilich das genaue Gegenteil behauptet. Damals wurde
das deutsche sittliche Rüstzeug ins Treffen geführt gegen eine fabelhafte franzö-
sische Leichtfertigkeit. Wer aber wird heute behaupten wollen, das deutsche Volk
habe sich, seit der Niederlage und noch mehr seit der Inflation, sittlich wieder
aufgerichtet? Es hat, im Gegenteil, seinen Wohlstand ebensowenig zurück-
erworben wie sein Gleichgewicht. Sein inneres Leben ist revolutionär geblieben,
und die öffentliche Meinung in Frankreich unterschätzt ganz offenbar noch die
Tragweite dieser Revolutionierung. Die Leute links vom Rhein, die den revolu-
tionären Charakter der deutschen Krise von 1918 wirklich ermessen können, sind
recht dünn gesät.
Es sei darauf hingewiesen, in welch weitem Umfang dieses Deutschland von
heute proletarisiert ist, proletarisiert im Sinne des Unterganges der alten nicht
wieder erworbenen Vermögen. Es ist viel verdient worden hier seit dem Waffen-
stillstand, man verdient vielleicht noch weiter, jedoch man legt den Gewinn nicht
mehr an: übermäßige Steuerlasten, Verschwendersinn, Unsicherheit der nächsten
Zukunft, Furcht vor dem stets drohenden Umsturz — eine wirkliche Katastrophen-
stimmung, schon im Krieg überhitzt, lassen die schwachen Neigungen zur Spar-
samkeit nicht aufkommen. In jedem Deutschen steckt etwas von der Art Neros:
man zündet sein Rom an, und man sagt sich: „Welch ein schöner Brand!" Welcher
Unterschied zwischen dem bäuerlichen Geiz der Gemeindeverwaltungen Frank-
reichs mit ihrer Voraussicht und der großmännischen — ehrlich gesprochen:
unverantwortlichen — Verschwendung der deutschen Städte! Auf diese Art wird
der für die normalen Funktionen des Wirtschaftslebens notwendige Umlauf freilich
nicht wiederhergestellt.
Man muß selber in Deutschland gewesen sein, um den Grad seiner Proletari-
sierung feststellen zu können. Aus seiner preußischen und Bismarckschen Zeit hat
das Reich eine Tradition strenger Verwaltung übernommen; auf diesem Boden ist
noch eine Flora von öffentlichen, privaten und gemischten Körperschaften in die
Höhe geschossen. In dieser Welt ist alles administrativ, oder wird es in kurzem.
Das ist deutscher Geist; er ist so stark, daß er sogar die sozialistische Revolution
zur Disziplin ausgestaltet hat. In dieser Art hat der Marxismus in Deutschland,
widerspruchsvoll genug, eine konservative und eine Ordnungsrolle gespielt, ganz
im Gegensatz zu der entfesselten Phantasie der Sowjets. Die private Tatkraft steckt
heute in einem, sie allseitig luftdicht abschließenden Panzer der sozialen Ein-
richtungen: die Löhne werden nirgends mehr im freien Kampf und Vertrag
bestimmt, sondern geradezu amtlich festgesetzt. Ein lückenloses System von
Schiedssprüchen, garantiert oder aufgenötigt vom Staat und nahezu chinesisch in
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land unserer eigenen westlichen Völkerfamilie durch ein starkes Band verbunden:
Deutschland widersteht jenen Kräften!
Von diesem Gesichtspunkt kann man, so meine ich, die Entwicklung Deutsch-
lands in der Zeit seit 1918 am besten verstehen. Das Land hat in sich nicht alle die
Kräfte eines geistigen Wiederaufbaues gefunden, die einer Zivilisation von mehr
ausgeglichener Struktur, wie etwa der französischen, zur Verfügung stehen. Wir
verdanken sie unseren römischen Traditionen, dem Gegensatz zur Unbestimmbar-
keit alles Germanischen. Eine solche Auffassung mag übertrieben scheinen, und
man hat vor dreißig Jahren freilich das genaue Gegenteil behauptet. Damals wurde
das deutsche sittliche Rüstzeug ins Treffen geführt gegen eine fabelhafte franzö-
sische Leichtfertigkeit. Wer aber wird heute behaupten wollen, das deutsche Volk
habe sich, seit der Niederlage und noch mehr seit der Inflation, sittlich wieder
aufgerichtet? Es hat, im Gegenteil, seinen Wohlstand ebensowenig zurück-
erworben wie sein Gleichgewicht. Sein inneres Leben ist revolutionär geblieben,
und die öffentliche Meinung in Frankreich unterschätzt ganz offenbar noch die
Tragweite dieser Revolutionierung. Die Leute links vom Rhein, die den revolu-
tionären Charakter der deutschen Krise von 1918 wirklich ermessen können, sind
recht dünn gesät.
Es sei darauf hingewiesen, in welch weitem Umfang dieses Deutschland von
heute proletarisiert ist, proletarisiert im Sinne des Unterganges der alten nicht
wieder erworbenen Vermögen. Es ist viel verdient worden hier seit dem Waffen-
stillstand, man verdient vielleicht noch weiter, jedoch man legt den Gewinn nicht
mehr an: übermäßige Steuerlasten, Verschwendersinn, Unsicherheit der nächsten
Zukunft, Furcht vor dem stets drohenden Umsturz — eine wirkliche Katastrophen-
stimmung, schon im Krieg überhitzt, lassen die schwachen Neigungen zur Spar-
samkeit nicht aufkommen. In jedem Deutschen steckt etwas von der Art Neros:
man zündet sein Rom an, und man sagt sich: „Welch ein schöner Brand!" Welcher
Unterschied zwischen dem bäuerlichen Geiz der Gemeindeverwaltungen Frank-
reichs mit ihrer Voraussicht und der großmännischen — ehrlich gesprochen:
unverantwortlichen — Verschwendung der deutschen Städte! Auf diese Art wird
der für die normalen Funktionen des Wirtschaftslebens notwendige Umlauf freilich
nicht wiederhergestellt.
Man muß selber in Deutschland gewesen sein, um den Grad seiner Proletari-
sierung feststellen zu können. Aus seiner preußischen und Bismarckschen Zeit hat
das Reich eine Tradition strenger Verwaltung übernommen; auf diesem Boden ist
noch eine Flora von öffentlichen, privaten und gemischten Körperschaften in die
Höhe geschossen. In dieser Welt ist alles administrativ, oder wird es in kurzem.
Das ist deutscher Geist; er ist so stark, daß er sogar die sozialistische Revolution
zur Disziplin ausgestaltet hat. In dieser Art hat der Marxismus in Deutschland,
widerspruchsvoll genug, eine konservative und eine Ordnungsrolle gespielt, ganz
im Gegensatz zu der entfesselten Phantasie der Sowjets. Die private Tatkraft steckt
heute in einem, sie allseitig luftdicht abschließenden Panzer der sozialen Ein-
richtungen: die Löhne werden nirgends mehr im freien Kampf und Vertrag
bestimmt, sondern geradezu amtlich festgesetzt. Ein lückenloses System von
Schiedssprüchen, garantiert oder aufgenötigt vom Staat und nahezu chinesisch in
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