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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Goll, Yvan: Ein Tag aus dem Leben eines Genies
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0736

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Ein Tag aus dem Leben eines Genies
Von
Iwan Goll
JT steht auf wie alle Bürger, gegen halb acht. Er denkt an die Post. Aber es
• J°sind nur Drucksachen. Er zieht seine Pantoffel an. Dann kommt die Scho-
kolade, mit einem einzigen Hörnchen. Auf dem Tablett müßten Daily Mail und
Le Journal liegen, er hat es dem Mädchen so oft gesagt. Aber sie wurden wieder
von den Kindern weggeschnappt: Giorgio, angehender Tenor, muß wissen,
wie die Prüfungen auf dem Konservatorium ausgefallen sind, und Lucia, die
Tänzerin ist, will abends ins Kino. J. J. läuft durch die Wohnung und ruft nach
dem Daily Mail. In der Küche steht Madame J. und bespricht das Menü für das
Mittagessen: „Mein Mann ißt dieser Tage wieder so wenig. Wir müssen Linsen
machen, Marie. Sein Leibgericht. Wenn wir in England sind, können wir
sowieso schon keine kochen, weil dort die Linsen, die aus Kairo kommen,
schlecht sind. Sie müssen grün sein. Also Esausuppe, Marie..."
Giorgio steigt Tonleitern hinauf und hinunter.
Lucia übt den Grand Ecart.
Marie klirrt mit Tellern und Tassen.
Madame J. schimpft im Flur mit dem Gasbeamten.
Aber J. J. schreibt, schreibt an seinem neuen Buch, das die Literatur des
20. Jahrhunderts revolutionieren wird.
Er ist halbblind. Er trägt zwei dicke Brillen übereinander und klemmt, wenn
er einen lateinischen Text nachlesen will, noch ein dickeres Monokel übers linke
Auge. Tausend Bücher muß er studieren, ehe er sein neues Werk vollendet, das
schon vor zehn Jahren begonnen wurde. Auf dem Schreibtisch liegen engbeschrie-
bene Seiten, mit roten, grünen, blauen Farbstiften unterstrichen. Die Manuskripte
sehen aus wie statistische Tabellen oder Kinderzeichnungen.
Um 1 Uhr Esausuppe. Strikt bürgerlicher Mittagstisch.
Um 2 Uhr wird weitergearbeitet. Die Kinder gehen in die Kurse. Die Frau
ins Warenhaus. Sie klagt besonders über die Hutpreise.
Gegen 3 Uhr kommt ein Journalist, der abgewiesen wird.
Gegen 5 Uhr der Biograph und Kritiker, der einen Artikel über J. J. für eine
Londoner Revue vorbereitet.
Die Nachmittagspost brachte einen ganzen Stoß von Zeitungsausschnitten
über den Prozeß, der in Amerika gegen den letzten Roman des Meisters aus-
gefochten wird. J. J. lacht bissig über die Dummheit der Menschen. Diese ist sein
schönster Zeitvertreib.
Der andere ist — die Freundschaft. J. J. hat nur wenige, aber was für Freunde!
Sie stammen alle aus seiner Heimatstadt und aus seiner Kindheit. Vier sind
bekannt: der Opernsänger Sullivan, der irische Maler Tuohy und die beiden
irischen Dichter Padraic Colum und James Stephens. J. J., der aus seiner Stadt Ver-
triebene, der ewige Vagant durch Europa, der Verfolgte, hängt mit allen Fasern
seines Seins an Familie, Heimat, Tradition.
Mit rührender Hingabe setzt sich J. J., der einst, bevor er schrieb, auch Opern-

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