Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 12.1932

DOI Heft:
Marginalien
DOI Artikel:
Alexandre, A.: U.S.A. 1932
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0798

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
vier volle Fünftel der Bevölkerung Einkommen unterhalb des hygienischen und
kulturellen Existenzminimums, also dreißig Millionen Amerikaner!"
Eines wurde des öfteren der amerikanischen Prosperity vorgeworfen. Sie ist
kein adeliger Reichtum, nicht gegründet auf die geistigen Ansprüche des Kör-
pers, kein Wohlstand von der Art des alten Athen oder Florenz. Diese amerika-
nische Zivilisation ist ein lärmender banaler Mechanismus. Was es überhaupt
an Gedanken und Verfeinerung dort zu Lande gibt (weit mehr, als übrigens der
Europäer vermutet), das geschieht sozusagen am Rande. Das wirklich Ameri-
kanische ist häßlich, soweit es nicht durch seine Kühnheit und sein Riesenmaß
etwas ist. Denn die besondere Schönheit der Wolkenkratzer oder der Brooklyn-
Brücke wird man ohne Vorurteil nicht gut in Abrede stellen.
Also urteilen die Kultivierten. Was sie sagen, ist richtig, ich möchte aber
doch nicht die gleichen Schlüsse ziehen. Denn mir scheinen zu viele üble Vor-
urteile mitzuspielen: fürs erste ein stupides Beharren, das sich gegen jede neue
Schönheit wehrt, die bekannte klassische Theorie vom Geschmack und Ebenmaß
und eine einfältige Verehrung des Veralteten. Daneben aber und vor allem stört
mich an diesen Leuten die geradezu imperialistische Vorstellung: das betreffende
europäische Land stehe in geistiger Beziehung hoch über Amerika. Das ist aber
heute leider in keinem einzigen Land so, nirgends auf der Welt findet der Geist
seine Stätte, keiner einzigen der Gegenwartskulturen kann der Intellektuelle
richtig zustimmen. Nur höchstens dem neuen Rußland könnte dieser seine
Gegenwartsfehler verzeihen, weil sie doch eine Zukunft vorbereiten.
Europa verdankt den Amerikanern (und zum Teil übrigens auch den Deut-
schen) die wunderbare neue Wissenschaft des „Betriebs", die bis dahin unbe-
kannte Wertschätzung des Ingenieurs, die bis nahe an die letzte Grenze gestei-
gerte Produktivität der Werktätigen mit der planmäßigen Ausschaltung jedes
nutzlosen Nebeneffektes — mit einem Worte die ganze, ungeheure, von der
menschlichen Höchstleistung aktivierte Energie. Amerika zeigt uns den Menschen,
der nicht länger im Schweiße seines Angesichts schafft, der nur noch als Herr
die Leistung der Tausende seiner mechanischen Sklaven überwacht. Alles das
verkündet uns die „Rationalisierung", ein herrliches Wort, eine wunderbare
Erfüllung des Geistes. Hier haben wir ein Instrument der Befreiung. Jedoch —
ohne die Vereinigten Staaten wäre auch der russische Fünfjahrplan unmöglich
gewesen, oder doch schon unmöglich geworden.
Welch ein Vorbild ist doch dieser ungeheure Optimismus Amerikas: ein-
hundertzwanzig Millionen Menschen im Kreuzzug gegen das Elend. Und in
einem Tempo, dem bis dahin nichts gleichkam, das zu übertreffen erst die
Sowjets sich anschicken. Weiß Gott, die Einzelheiten dort drüben sind nicht
immer schön. Auch die Menschen sind selten interessant, sie sind ungebildet,
geldgierig, banal. Doch die Bewegung reinigt das alles in ihrem Feuer, in ihrem
mutigen Vorstoß nach einer neuen Zivilisation. Sie gleichen ihren Vorfahren,
wie sie sich einst in das Unbekannte der Neuen Welt wagten, beseelt von der
Hoffnung, den überkommenen Fluch der Armut zu überwinden. Und war einer
einmal dort angelangt, so hatte er schon gewonnen.
Dann aber, an einem schönen Oktobertag des Jahres 1929, wurden alle diese
Hoffnungen an der New Yorker Börse zunichte, und von dort ergriff bald die
Lähmung das gesamte Leben des Landes und griff über auf alle wirtschaftlichen
Vasallen Amerikas. Industrie, Handel, Banken, alles ist getroffen oder doch in
Mitleidenschaft gezogen. Sechs Millionen Erwerbslose, mit anderenWorten zwanzig
Millionen hungernde Menschen. Alles droht einzustürzen und den König Dollar

538
 
Annotationen