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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Stuckenschmidt, Hans Heinz: Panamerika komponiert
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0857

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einer polyphonen Idee dienstbar ge-
macht werden, haben wir 1932 unter
Nicolas Slonimsky gehört.
Merkwürdig übrigens, wie groß
augenblicklich Berlins Anziehungskraft
für diese Musik-Amerikaner geworden
ist. Als Antheil 1922 herkam, war es
eigentlich guter Ton, in Paris bei Nadja
Boulanger zu studieren. Jetzt leben
hier ständig zwei der begabtesten
Leute: "Koger Sessions undAaron Copland;
die junge Ruth Crawford hat sich monate-
lang in Berlin aufgehalten, Cowell
arbeitet hier in Hornbostels Phono-
grammarchiv, Marc Blitzstein sah man
in allen Charlottenburger Ateliers.
Adolphe Weiß, der regelmäßig seinen
Sommer in Berlin verbringt, hat aller-
dings stärkere Bindungen. Er stammt
aus dem Schönberg-Kreis, studierte hier
in der Akademie die Zwölftönemusik
an der Quelle und fühlt sich auch durch
Abstammung in Deutschland halb be-
heimatet. Er ist technisch der gebil-
detste unter seinen panamerikanischen
Kollegen; sein Handwerk umfaßt die
Universalität der schönbergischen Sy-


Covarrubias

Leopold Stokowski

steme und die neuen „sonorites" der transatlantischen Gruppe. Er hat in
„American Life" die Synthese von Jazz, Tonecluster und Zwölftonreihe ge-
funden. Weiß ist einundvierzig, kommt aus Baltimore, ^bläst Fagott, [lehrt
junge New Yorker Kontrapunkt, schrieb Streichquartette, ein Chorwerk nach
Aeschylos und etliche Orchestersachen.
Eine Art magischer Aura umgibt das Schaffen und die Existenz Edgar Vareses.
Er ist der konsequenteste Outsider der Musikgeschichte, verzichtet auf ein Jahr-
tausend kompositorischer Erfahrung und geht, oft im Kampf gegen das Material,
an seine Arbeiten mit einem mathematischen Plan. Die Titel seiner suitenartigen
Symphonien sind „Oktander", „Integral", „Hyperprism", im harmloseren Falle
„Offrandes" oder „Arcana". Alles, was wir als Element und Achse unsrer
Musik zu betrachten gewohnt sind, ist bei Varese Nebenprodukt, Zufalls-
erscheinung, unvermeidliche aber unwichtige Realisationsform. Daß er im
Grunde, wie die meisten dieser begabten Leute drüben, impressionistisch vor-
geht, lehrt uns allerdings der flüchtigste Blick auf seine Partituren. Hier ist alles
Klangdynamik, differenzierte Farbschwingung, Chemie der Obertöne, sensuale
Algebra. Im Crescendo und Decrescendo, in der Mischung von Schwellendem
und Verklingendem entsteht ein tatsächlich ganz neuer Orchesterstil, neben
dem etwa Schönbergs polychromste Partituren wie eitel Grau anmuten. Varese

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