kamen sie mit einigen Monaten Gefängnis davon. Die Zufälligkeiten des Kriegs-
gerichts, die Zufälligkeiten eines beschleunigten Verfahrens schieden seltsam die
irischen Revolutionäre: die einen kamen aufs Schafott, und vor den anderen eröffnete
sich eine weite politische Laufbahn. Das sind häufige Erscheinungen in Zeiten
der Revolution und des Bürgerkriegs.
Bereits vor der Amnestie wurde de Valera als Kandidat, sowohl für die gesetz-
gebenden Kommissionen als auch für die höchsten Stellen der Sinnfein-Organisation
bestimmt. Sein Aufstieg vollzog sich mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit. Die an-
gesehensten Revolutionäre waren umgekommen, viele Stellen wurden frei. De
Valera war von der Gloriole fremden Märtyrertums umgeben. Seinen Anschauungen
nach nahm er um jene Zeit die mittlere Position der Partei ein, — fast immer die
vorteilhafteste. Er sagte, daß er kein „Doktrinär der Republik" sei und sich mit der
Anerkennung der Selbständigkeit Irlands und den Rechten eines Dominions be-
gnügen würde. Aber selbstverständlich, unabhängig von allen diesen Nebenum-
ständen, hatte de Valera als kluger, gebildeter, ehrgeiziger und eigensinniger Mensch
hinreichende Qualitäten, Parteiführer zu werden. Bald wurde er es auch. Griffith,
der Schöpfer der Sinnfein-Bewegung (der auch den Namen erfand) war ein Gegner
des Aufstands von 1916 und beteiligte sich nicht daran. Vielleicht wurde deshalb,
mit Billigung von Griffith selbst, de Valera zum Führer der Partei gewählt.
Nach einiger Zeit verhafteten ihn die englischen Behörden wieder und brachten
ihn ins Gefängnis von Lincoln. Aus diesem Gefängnis floh er am 3. Februar 1919.
Die Flucht erfolgte unter sehr abenteuerlichen Umständen. Eines Abends kam der
Gefängnisgeistliche, der gewöhnlich die Gefangenen besuchte, zu ihm. Während
der Unterhaltung mit de Valera legte der Geistliche, in einem Moment der Zer-
streutheit, den Schlüssel der Zellentür auf den Tisch. De Valera tropfte Wachs
von seiner Kerze auf die Tischplatte, und in einem geeigneten Augenblick machte er
sich einen Abdruck vom Schlüssel. Nach einiger Zeit erhielten seine Freunde aus
dem Gefängnis eine Karte mit einer humoristischen Zeichnung. Abgebildet war ein
Betrunkener, der sich vergeblich bemühte, einen Schlüssel ins Schloß zu stecken.
Die verständigen Freunde begriffen; de Valera sandte ihnen eine genaue Zeichnung
des Schlüssels, den er für die Flucht nötig hatte. Der Schlüssel wurde sofort her-
gestellt und, verbacken in einen Kuchen, als Geschenk seiner Verwandten über-
sandt. Aber der nach der Zeichnung angefertigte Schlüssel paßte nicht ins Schloß.
So wurden ins Gefängnis, wiederum in einem Kuchen, die notwendigen Werkzeuge
geschickt. Ein Gefängnisgenosse de Valeras, der im Schlosserhandwerk bewandert
war, fertigte einen passenden Schlüssel an. Mit Hilfe dieses Schlüssels öffnete de
Valera zur verabredeten Zeit seine Zelle, verließ das Gefängnis, setzte sich in das
von seinen Gesinnungsgenossen bereitgehaltene Auto und verschwand.
An dieser ganzen Sache ist vieles unwahrscheinlich: die Zellen moderner Gefängnisse
werden doch nicht mit Kerzen, sondern mit elektrischem Licht erleuchtet; und um
das Gefängnis zu verlassen genügt es nicht, eine Tür zu öffnen, sondern mehrere;
und gewöhnlich sitzen vor jeder Gefängnistür Wächter; einen Schlüssel nach einer
Scherzzeichnung auf einer Postkarte anzufertigen ist schon ein Kunststück; und die
Übergabe solcher Schlüssel mittels eines Kuchens gelingt auch meistens nur in
Romanen Ponson de Terrails. Und doch unterliegt es keinem Zweifel, daß de Va-
lera eben auf diese Weise geflohen ist,— es sei denn, daß die Legende dieses oder
jenes Detail etwas ausgeschmückt hat. Man muß wohl annehmen, daß die Bewa-
chung des Lincoln-Gefängnisses in sehr nachlässigen Händen lag. Ich erwähne
noch, daß die Durchführung der Flucht von dem irischen Verschwörer Michael
Collins organisiert wurde, der später im Bürgerkrieg gegen de Valera fallen sollte . ..
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gerichts, die Zufälligkeiten eines beschleunigten Verfahrens schieden seltsam die
irischen Revolutionäre: die einen kamen aufs Schafott, und vor den anderen eröffnete
sich eine weite politische Laufbahn. Das sind häufige Erscheinungen in Zeiten
der Revolution und des Bürgerkriegs.
Bereits vor der Amnestie wurde de Valera als Kandidat, sowohl für die gesetz-
gebenden Kommissionen als auch für die höchsten Stellen der Sinnfein-Organisation
bestimmt. Sein Aufstieg vollzog sich mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit. Die an-
gesehensten Revolutionäre waren umgekommen, viele Stellen wurden frei. De
Valera war von der Gloriole fremden Märtyrertums umgeben. Seinen Anschauungen
nach nahm er um jene Zeit die mittlere Position der Partei ein, — fast immer die
vorteilhafteste. Er sagte, daß er kein „Doktrinär der Republik" sei und sich mit der
Anerkennung der Selbständigkeit Irlands und den Rechten eines Dominions be-
gnügen würde. Aber selbstverständlich, unabhängig von allen diesen Nebenum-
ständen, hatte de Valera als kluger, gebildeter, ehrgeiziger und eigensinniger Mensch
hinreichende Qualitäten, Parteiführer zu werden. Bald wurde er es auch. Griffith,
der Schöpfer der Sinnfein-Bewegung (der auch den Namen erfand) war ein Gegner
des Aufstands von 1916 und beteiligte sich nicht daran. Vielleicht wurde deshalb,
mit Billigung von Griffith selbst, de Valera zum Führer der Partei gewählt.
Nach einiger Zeit verhafteten ihn die englischen Behörden wieder und brachten
ihn ins Gefängnis von Lincoln. Aus diesem Gefängnis floh er am 3. Februar 1919.
Die Flucht erfolgte unter sehr abenteuerlichen Umständen. Eines Abends kam der
Gefängnisgeistliche, der gewöhnlich die Gefangenen besuchte, zu ihm. Während
der Unterhaltung mit de Valera legte der Geistliche, in einem Moment der Zer-
streutheit, den Schlüssel der Zellentür auf den Tisch. De Valera tropfte Wachs
von seiner Kerze auf die Tischplatte, und in einem geeigneten Augenblick machte er
sich einen Abdruck vom Schlüssel. Nach einiger Zeit erhielten seine Freunde aus
dem Gefängnis eine Karte mit einer humoristischen Zeichnung. Abgebildet war ein
Betrunkener, der sich vergeblich bemühte, einen Schlüssel ins Schloß zu stecken.
Die verständigen Freunde begriffen; de Valera sandte ihnen eine genaue Zeichnung
des Schlüssels, den er für die Flucht nötig hatte. Der Schlüssel wurde sofort her-
gestellt und, verbacken in einen Kuchen, als Geschenk seiner Verwandten über-
sandt. Aber der nach der Zeichnung angefertigte Schlüssel paßte nicht ins Schloß.
So wurden ins Gefängnis, wiederum in einem Kuchen, die notwendigen Werkzeuge
geschickt. Ein Gefängnisgenosse de Valeras, der im Schlosserhandwerk bewandert
war, fertigte einen passenden Schlüssel an. Mit Hilfe dieses Schlüssels öffnete de
Valera zur verabredeten Zeit seine Zelle, verließ das Gefängnis, setzte sich in das
von seinen Gesinnungsgenossen bereitgehaltene Auto und verschwand.
An dieser ganzen Sache ist vieles unwahrscheinlich: die Zellen moderner Gefängnisse
werden doch nicht mit Kerzen, sondern mit elektrischem Licht erleuchtet; und um
das Gefängnis zu verlassen genügt es nicht, eine Tür zu öffnen, sondern mehrere;
und gewöhnlich sitzen vor jeder Gefängnistür Wächter; einen Schlüssel nach einer
Scherzzeichnung auf einer Postkarte anzufertigen ist schon ein Kunststück; und die
Übergabe solcher Schlüssel mittels eines Kuchens gelingt auch meistens nur in
Romanen Ponson de Terrails. Und doch unterliegt es keinem Zweifel, daß de Va-
lera eben auf diese Weise geflohen ist,— es sei denn, daß die Legende dieses oder
jenes Detail etwas ausgeschmückt hat. Man muß wohl annehmen, daß die Bewa-
chung des Lincoln-Gefängnisses in sehr nachlässigen Händen lag. Ich erwähne
noch, daß die Durchführung der Flucht von dem irischen Verschwörer Michael
Collins organisiert wurde, der später im Bürgerkrieg gegen de Valera fallen sollte . ..
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