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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Die letzten Menschen
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0962

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Die letzten Menschen
Von
Edgar Neville
I.
Man sprach schon lange davon: Immer mehr Menschen starben, und immer
weniger warme Flauschjacken wurden hergestellt. Als wäre es damit noch
nicht genug, kamen zwei Kriege hintereinander, denen Epidemien folgten. Der
Tod war unser tägliches Brot. Selbst diejenigen, die ein Beispiel des Lebens geben
sollten, die Hundertjährigen selbst, starben. Es war furchtbar; es starben sogar
die Bulgaren.
Die Katastrophe war so unvermeidlich, daß die Menschen sie ohne Gezeter
hinnahmen; aber die Lebensart hatte sich verändert, hatte sich der Wirklichkeit
angepaßt. Man traf keine Verabredungen mehr, man sagte nicht mehr „auf
morgen". Die Menschen lebten für den Tag, für die Stunde und beschäftigten
sich nur noch damit, möglichst gut zu sterben, auf der rechten Seite zu sterben.
Es kam ein Augenblick, da fast niemand mehr übrig war; und begegneten
einander die wenigen, die noch atmeten, auf der Straße, so lächelten sie sich
stoisch zu. „Und Sie? wann sterben Sie?".
Die Erde wurde unruhig und erbebte. Italien sah nicht mehr wie ein Stiefel aus.
Eines Morgens war niemand mehr da, sich an den Frühstückstisch zu setzen,
Denn alle Menschen waren tot.
Es war so still, daß es schien, als habe jemand mit einem Taktstock gegen ein
Pult geschlagen. Aber nichts antwortete, kein Pfiff, kein Befehl, nur ein erschrok-
kenes Schweigen. Wenn man die Stille recht gehört hatte, vernahm man das leise
Zischen einer zerbrochenen Gasleitung, welches das Schweigen noch tiefer machte.
Die Dinge warteten auf den Menschen wie jeden Morgen, sie warteten angstvoll
auf ihn, ohne das geringste zu begreifen, in heller Aufregung. Maschinen, Häuser,
Straßen, Städte warteten, dem Weinen nahe.
Durch die Straßen wanderten letzte Worte und fanden kein Gehör mehr.
Schatten von Körpern, die ihren Herrn verloren hatten, suchten einen neuen und
trafen den Tod am hellen Mittag.
Der Eiffelturm legte sich quer über den Mund von Paris und gebot dem Abend-
land Schweigen. Die Seine ging wie auf Zehenspitzen. Aus den Bahnhöfen waren
alle Züge ausgefahren. Der Tod feierte sein Fest der Arbeit.
Die Plakate an den Litfaßsäulen verschlimmerten die Tragödie: sie zeigten,
was niemand mehr sehen würde, Porträts von verschwundenen Schauspielern
und Schauspielerinnen und die hundert girls — hundert — aus dem Kasino, die
in Reih und Glied wie Bleisoldaten umgefallen waren.
Nur die Uhren gingen noch, da sie für viele Jahre aufgezogen waren, und
ihr Ticktack stand als Gedankenstrich hinter dem Wort „Leben". Sie schlugen
sinnlos die Stunden und maßen eine Zeit, die niemandem mehr gehörte. Die
Sekunden waren der Pulsschlag der Erde. Ein Wecker, der auf den Augenblick
gewartet hatte, seinen Ulk zu vollführen, rasselte im Schlafzimmer Susannens
so heftig los, daß das Mädchen in die Höhe fuhr.

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