„PARFÜMIERTER MYTHOS"
Der „Berliner Börsenzeitung" hat es „Isoldes Brautnacht" im Augustheft des
„Querschnitt" angetan (S. 476). Unter der geschmackvollen Überschrift „Par-
fümierter Mythos" nennt sie die dort wiedergegebene Dichtung eine lüsterne
Rokokoszene", hinter deren Wandschirm sich der „dichtende Beobachter" ver-
birgt. „Schließlich", so heißt es in der „Börsenzeitung", „stöbert man ihn im In-
haltsverzeichnis auf: Heinrich v. Freiberg", und der dichtende Beobachter der „Bör-
senzeitung" fährt wörtlich fort: „Aber so heißt er wahrscheinlich nicht. Die Ano-
nymität ist also offenbar im deutschen Schrifttum immer noch nicht abgeschafft. Wir
hätten uns diesen „Dichter" gar zu gerne einmal beim heutigen Tageslicht besehen."
Diesen Wunsch der „Börsenzeitung" kann der „Querschnitt" leider nicht er-
füllen, da der „dichtende Beobachter" dieser „lüsternen Rokokoszene" bereits vor
600 Jahren das Zeitliche gesegnet hat: Heinrich von Freiberg, einer der berühmten
Minnesänger des 13. Jahrhunderts in dem deutschen Lande Böhmen. Und da wir
diesen „Anonymus" nicht persönlich vorstellen können, wollen wir wenigstens
mitteilen, daß Heinrich von Freiberg der Dichter des mittelalterlichen Tristan-
Romans ist, und zwar einer Fortsetzung des von Gottfried von Strasburg un-
vollendet gelassenen Werkes. Heinrichs Tristan ist in zwei Handschriften in Köln
und in Florenz und in einem Bruchstück in Wolfenbüttel erhalten. Die Hand-
schrift F in Florenz stammt aus der Zeit kurz nach 1300 und ist nach ihren
sprachlichen Merkmalen in Böhmen, die Handschrift O des Kölner Stadtarchivs
ist in Rheinfranken im Umkreise von Mainz geschrieben worden.
Aus diesen Handschriften hat der „Querschnitt" eine Übertragung ins Hoch-
deutsche veröffentlicht, und zwar nach der soeben erschienenen neuen Ausgabe der
„Böhmerland-Drucke", die Alois Bernt im Verlage Stiepel, Reichenberg, veröffent-
licht hat. Der Verfasser des „Parfümierten Mythos" hätte bei aufmerksamer Lektüre
des „Querschnitt" diese Feststellung auf Seite 504 des gleichen Heftes gefunden.
Statt dessen hat er sich unterfangen, den Dichter Heinrich von Freiberg in
einer Stilanalyse zu zerflücken, die nicht ohne Humor zu lesen ist. Es heißt da:
„Der Dichter muß merkwürdige Vorstellungen von der Anatomie des
Körpers haben. Er singt nämlich von Isolde: „An die Hüfte schmiegte
sie / beide Schenkel und die Knie." Diese Isold'e ist offenbar ein Schlangen-
mensch. Aber das ist noch gar nichts. Isolde ist geradezu ein akrobatisches
Genie. „Isolde wollte ihre Beine / die weißen und die linden, / in ihr
Hemdlein winden." Sie hatte offenbar mehr als zwei Beine. Das kommt auf
chinesischen Götterbildern vor, aber im germanischen Mythos ist es neu.
Dafür hat es erst der „Querschnitt" im Jahre 1936 entdeckt. Und dann:
„die weißen", ja, das gibt's, aber „die linden", Junge, Junge! Und das alles
windet sie nun so mir nichts, dir nichts in ihr Hemdlein.
Wir wollen diese widerliche spielerische Atmosphäre nicht weiter ent-
spinnen. Hier wird der Mythos von Lüsternen für Lüsterne mißbraucht. Es
ist nichts von der schicksalhaften Größe dieser Liebe darin. Die großen
Stoffe des deutschen Mythos sind dem deutschen Volke heilig. Sie dürfen
nicht zu Boudoirszenen erniedrigt werden. Mit deutschem Empfinden hat
das nicht nur nichts zu tun. Es schlägt ihm gerade ins Gesicht."
Diese pedantische schulmeisterlich-spießige Zerpflückung einer klassischen Dich-
tung mag für manchen Leser von Reiz sein. Ohne Reiz ist es jedoch, wenn für
derart einseitige Geschmacksurteile immer gleich das „deutsche Empfinden" haft-
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Der „Berliner Börsenzeitung" hat es „Isoldes Brautnacht" im Augustheft des
„Querschnitt" angetan (S. 476). Unter der geschmackvollen Überschrift „Par-
fümierter Mythos" nennt sie die dort wiedergegebene Dichtung eine lüsterne
Rokokoszene", hinter deren Wandschirm sich der „dichtende Beobachter" ver-
birgt. „Schließlich", so heißt es in der „Börsenzeitung", „stöbert man ihn im In-
haltsverzeichnis auf: Heinrich v. Freiberg", und der dichtende Beobachter der „Bör-
senzeitung" fährt wörtlich fort: „Aber so heißt er wahrscheinlich nicht. Die Ano-
nymität ist also offenbar im deutschen Schrifttum immer noch nicht abgeschafft. Wir
hätten uns diesen „Dichter" gar zu gerne einmal beim heutigen Tageslicht besehen."
Diesen Wunsch der „Börsenzeitung" kann der „Querschnitt" leider nicht er-
füllen, da der „dichtende Beobachter" dieser „lüsternen Rokokoszene" bereits vor
600 Jahren das Zeitliche gesegnet hat: Heinrich von Freiberg, einer der berühmten
Minnesänger des 13. Jahrhunderts in dem deutschen Lande Böhmen. Und da wir
diesen „Anonymus" nicht persönlich vorstellen können, wollen wir wenigstens
mitteilen, daß Heinrich von Freiberg der Dichter des mittelalterlichen Tristan-
Romans ist, und zwar einer Fortsetzung des von Gottfried von Strasburg un-
vollendet gelassenen Werkes. Heinrichs Tristan ist in zwei Handschriften in Köln
und in Florenz und in einem Bruchstück in Wolfenbüttel erhalten. Die Hand-
schrift F in Florenz stammt aus der Zeit kurz nach 1300 und ist nach ihren
sprachlichen Merkmalen in Böhmen, die Handschrift O des Kölner Stadtarchivs
ist in Rheinfranken im Umkreise von Mainz geschrieben worden.
Aus diesen Handschriften hat der „Querschnitt" eine Übertragung ins Hoch-
deutsche veröffentlicht, und zwar nach der soeben erschienenen neuen Ausgabe der
„Böhmerland-Drucke", die Alois Bernt im Verlage Stiepel, Reichenberg, veröffent-
licht hat. Der Verfasser des „Parfümierten Mythos" hätte bei aufmerksamer Lektüre
des „Querschnitt" diese Feststellung auf Seite 504 des gleichen Heftes gefunden.
Statt dessen hat er sich unterfangen, den Dichter Heinrich von Freiberg in
einer Stilanalyse zu zerflücken, die nicht ohne Humor zu lesen ist. Es heißt da:
„Der Dichter muß merkwürdige Vorstellungen von der Anatomie des
Körpers haben. Er singt nämlich von Isolde: „An die Hüfte schmiegte
sie / beide Schenkel und die Knie." Diese Isold'e ist offenbar ein Schlangen-
mensch. Aber das ist noch gar nichts. Isolde ist geradezu ein akrobatisches
Genie. „Isolde wollte ihre Beine / die weißen und die linden, / in ihr
Hemdlein winden." Sie hatte offenbar mehr als zwei Beine. Das kommt auf
chinesischen Götterbildern vor, aber im germanischen Mythos ist es neu.
Dafür hat es erst der „Querschnitt" im Jahre 1936 entdeckt. Und dann:
„die weißen", ja, das gibt's, aber „die linden", Junge, Junge! Und das alles
windet sie nun so mir nichts, dir nichts in ihr Hemdlein.
Wir wollen diese widerliche spielerische Atmosphäre nicht weiter ent-
spinnen. Hier wird der Mythos von Lüsternen für Lüsterne mißbraucht. Es
ist nichts von der schicksalhaften Größe dieser Liebe darin. Die großen
Stoffe des deutschen Mythos sind dem deutschen Volke heilig. Sie dürfen
nicht zu Boudoirszenen erniedrigt werden. Mit deutschem Empfinden hat
das nicht nur nichts zu tun. Es schlägt ihm gerade ins Gesicht."
Diese pedantische schulmeisterlich-spießige Zerpflückung einer klassischen Dich-
tung mag für manchen Leser von Reiz sein. Ohne Reiz ist es jedoch, wenn für
derart einseitige Geschmacksurteile immer gleich das „deutsche Empfinden" haft-
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