Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0860
DOI issue:
Heft 10
DOI article:"Parfümierter Mythos"
DOI article:Das literarische Kamel
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bar gemacht wird, noch dazu, wenn man es bloß als Ersatz für solides Wissen
und fachliche Kenntnisse verwenden muß.
Im übrigen müssen wir jedoch dem „dichtenden Beobachter" der „Börsen-
zeitung" für seinen Angriff dankbar sein. Zeigt sich doch, daß die ewige deutsche
Dichtung immer jung und lebendig bleibt, so daß die von uns veröffentlichte
Szene „Isoldes Brautnacht" aus dem 13. Jahrhundert immer noch in der Lage
ist, die philologischen Spießer des 20. Jahrhunderts auf den Plan zu rufen.
DAS LITERARISCHE KAMEL
An einem kalten, sonnigen, trockenen Wintertage schritt durch die lärmenden
Straßen von London ein — Dromedar. Sein dünner Hals, dieses Anhängsel des
unförmigen Rumpfes, ähnlich dem Griffbrett eines Violoncellokastens, thronte
stolz über der Menge und seine schmalen, umflorten Augen blickten träumerisch
in die Weite... Das Menschengedränge wogte zu seinen Füßen, schreckliche Auto-
hupentöne erschallten ringsum, es achtete aber nicht darauf. Erhaben und stolz
schritt es dahin, und nur von Zeit zu Zeit bewegte es verächtlich die speichel-
bedeckten Lippen:
„Geh auseinander, faule Menge! — Ich komme."
Denkt nicht, daß eine gemusterte Decke, die seinen gemauserten Rumpf bedeckte,
die Ursache dieses Stolzes war. Nein.
Die Ursache lag tiefer. An den rechten Vorderhuf hatte man ihm heut früh einen
Gummistempel mit der Aufschrift: „Pears soap" — Pears Seife — angefügt, und
die Wüstenarche, die durch die Regent-Street in der Richtung zum Trafalgar-
Square schritt, gab diese Worte auf dem Straßenpflaster wieder. Und dies erfüllte
es mit Stolz.
Denn sein Weg verlief nicht spurlos. O nein! Es ließ hinter sich lange Reihen
gedruckter Buchstaben zurück:
Pears soap. Pears soap. Pears soap.
An der Ecke des Piccadilly versperrte ihm jemand den Weg. Es war sein alter
Kollege aus einem Wanderzirkus — der Esel Jack.
„Hallo, Harry!" — rief freudig der Esel. „Schon lange sah ich dich nicht mehr,
lieber Freund, was machst du? How do you do?"
Das Dromedar maß ihn mit verächtlichem Blick.
„Mach Platz!" sagte es langsam. — „Geh aus dem Wege! Und rede mich nicht
an. Siehst du denn nicht, daß du mich störst?"
— „Worin?" sprach verwundert der Esel.
Das Dromedar wies mit majestätischer Bewegung des Schwanzes nach hinten,
auf die lange Reihe der Buchstaben ...
„In meiner literarischen Tätigkeit!" — erwiderte es. — „Dies alles ging unter
meinem Huf hervor. Tritt also beiseite, denn wie du siehst, bin ich heute in Ekstase."
Mit diesen Worten schritt es weiter in der Richtung zum Trafalgar-Square,
stolz, voll Verachtung, erhaben, und mit jedem Schritt vergrößerte ein neues „Pears
soap" die Riesenlitanei.
Der Esel stand wie festgebannt, blickte auf den entschwindenden Schwanz des
Freundes und immer von neuem auf die lange Reihe der gedruckten Worte.
„Glückliches Vieh" — seufzte er endlich. — „Es läßt eine Spur hinter sich zurück.
Es geht in die Nachwelt über; warum gab mir Gott nicht auch literarisches Talent?"
Und tief seufzte es noch einmal. B.W.
620
und fachliche Kenntnisse verwenden muß.
Im übrigen müssen wir jedoch dem „dichtenden Beobachter" der „Börsen-
zeitung" für seinen Angriff dankbar sein. Zeigt sich doch, daß die ewige deutsche
Dichtung immer jung und lebendig bleibt, so daß die von uns veröffentlichte
Szene „Isoldes Brautnacht" aus dem 13. Jahrhundert immer noch in der Lage
ist, die philologischen Spießer des 20. Jahrhunderts auf den Plan zu rufen.
DAS LITERARISCHE KAMEL
An einem kalten, sonnigen, trockenen Wintertage schritt durch die lärmenden
Straßen von London ein — Dromedar. Sein dünner Hals, dieses Anhängsel des
unförmigen Rumpfes, ähnlich dem Griffbrett eines Violoncellokastens, thronte
stolz über der Menge und seine schmalen, umflorten Augen blickten träumerisch
in die Weite... Das Menschengedränge wogte zu seinen Füßen, schreckliche Auto-
hupentöne erschallten ringsum, es achtete aber nicht darauf. Erhaben und stolz
schritt es dahin, und nur von Zeit zu Zeit bewegte es verächtlich die speichel-
bedeckten Lippen:
„Geh auseinander, faule Menge! — Ich komme."
Denkt nicht, daß eine gemusterte Decke, die seinen gemauserten Rumpf bedeckte,
die Ursache dieses Stolzes war. Nein.
Die Ursache lag tiefer. An den rechten Vorderhuf hatte man ihm heut früh einen
Gummistempel mit der Aufschrift: „Pears soap" — Pears Seife — angefügt, und
die Wüstenarche, die durch die Regent-Street in der Richtung zum Trafalgar-
Square schritt, gab diese Worte auf dem Straßenpflaster wieder. Und dies erfüllte
es mit Stolz.
Denn sein Weg verlief nicht spurlos. O nein! Es ließ hinter sich lange Reihen
gedruckter Buchstaben zurück:
Pears soap. Pears soap. Pears soap.
An der Ecke des Piccadilly versperrte ihm jemand den Weg. Es war sein alter
Kollege aus einem Wanderzirkus — der Esel Jack.
„Hallo, Harry!" — rief freudig der Esel. „Schon lange sah ich dich nicht mehr,
lieber Freund, was machst du? How do you do?"
Das Dromedar maß ihn mit verächtlichem Blick.
„Mach Platz!" sagte es langsam. — „Geh aus dem Wege! Und rede mich nicht
an. Siehst du denn nicht, daß du mich störst?"
— „Worin?" sprach verwundert der Esel.
Das Dromedar wies mit majestätischer Bewegung des Schwanzes nach hinten,
auf die lange Reihe der Buchstaben ...
„In meiner literarischen Tätigkeit!" — erwiderte es. — „Dies alles ging unter
meinem Huf hervor. Tritt also beiseite, denn wie du siehst, bin ich heute in Ekstase."
Mit diesen Worten schritt es weiter in der Richtung zum Trafalgar-Square,
stolz, voll Verachtung, erhaben, und mit jedem Schritt vergrößerte ein neues „Pears
soap" die Riesenlitanei.
Der Esel stand wie festgebannt, blickte auf den entschwindenden Schwanz des
Freundes und immer von neuem auf die lange Reihe der gedruckten Worte.
„Glückliches Vieh" — seufzte er endlich. — „Es läßt eine Spur hinter sich zurück.
Es geht in die Nachwelt über; warum gab mir Gott nicht auch literarisches Talent?"
Und tief seufzte es noch einmal. B.W.
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