Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0382
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Heft 5
DOI article:Hofer, Hans: Das Panoptikum der Hoffenden: Eine Epistel Heirats-Inserate
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DAS PANOPTIKUM
DER HOFFENDEN
Eine Epistel Heirats-Inserate
Von
HANS HOFER
Inseratenteil einer großen Sonntagszeitung.
Er wiegt auf der Briefwaage knapp ein halbes
Pfund. Der größte Gewichtsanteil davon entfällt auf
die Spalten, in denen möblierte Zimmer angeboten werden,
dann folgen Hausgehilfinnen, Geschäfte, Motorräder und Musiki
instrumente. Nach dem „Tierpark", aber noch vor den „Waschanstalten"
rangieren die Kästchentürme mit dem Stichwort „Heiraten". Es sind an die zwei^
hundert Inserate. Im letzten offeriert sich ein „solider Witwer aus dem Mittelstand,
49/174°, daran schließt sich unmittelbar das Türmchen „Verloren", unter
dem ein stehengelassener Kurbelinduktor und ein entlaufenes gestromtes Zwerge
bullhündchen gegen Belohnung um Rückgabe gebeten werden.
Wenn man die winzigen Zeilchen der Heiratsinserate, die die Zeitung an diesem
einzigen Sonntag aufnehmen konnte, liest, so scheint es, daß dies das Dichteste
von einem Bilde war, das diese Zeitung je gegeben hat. Ein Bild, das nicht ein
bewährter Skribent entworfen hat, sondern die anonyme Leserschaft selbst; und
nicht nur die Leserschaft: der Mann über uns, die Frau visAMs, überhaupt alle
die Irgendwers, die — jeden dasselbe — schmerzliches Verlangen dazu überredete,
daß sie sich niedersetzten und ein paar Zeilen aufschrieben und diese paar Zeilen
zur Zeitung oder deren Annahmestellen brachten mit der verlegenen Bemerkung,
sie täten's für einen Freund, eine arme Bekannte ... ein paar Zeilen, in denen sie
hinter dem schaurigen Schleier einer pseudonymen Chiffre so gedrängt wie mög^
lieh — denn jede Zeile kostet eine runde Mark — vor aller Welt aussagen sollten
über sich und über den andern. „Pfingstwunsch — auf diesem zeitgemäßen Wege
suche auch ich...", so und ähnlich beginnen diese telegrammhaft zeichnenden
Autobiographien und Biographien des andern und mit: ,,. . . einen seriösen Mann
in fester Position zwecks Heirat kennenzulernen. Selbstoff u...." enden sie. Da
ist diesen Irgendwers ein Griffel in die Hand gegeben, damit sie zum ersten und
vielleicht zum letzten Male in ihrem Leben ein paar einfache gültige Worte über
sich (und den andern) aussagen, aber von hundert sind neunundneunzig nichts
als blasseste, vom ständigen Abgegriffensein grau gewordene, unbeseelte Formeln,
„zwecks Heirat", nichts als „zwecks Heirat", „Streng reell", „bin natura und dunst',
liebend", „nur bestsituierten Beamten mit wahrer Herzensbildung" und so fort und
so fort. Unter hundert sind neunundneunzig dieser Biographien von einer wesens
losen, leichenhaften Kongruenz, als stünde nicht ein ER und ein SIE, ein Mensch
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