Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0450
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Heft 6
DOI Artikel:Der Kuss im Jugendstil
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DER KUSS IM JUGENDSTIL
Der Naturforscher: Der Kuß ist das Vereinigen zweier entgegengesetzter Pole, aus
welchen derselbe gleichsam als elektrischer Funke hervorspringt.
Der Moralist: Der Kuß ist das Zeichen der Gemeinschaft des Leibes und kann
daher rechtmäßig nur in der Ehe statthaben.
Der Arzt: Der Kuß ist diejenige Art der Bewegung der Labialmuskeln, durch
welche die Lippen erst gepreßt, dann plötzlich losgelassen werden; der Kuß
ist daher streng wissenschaftlich als eine Art von Krampf zu bezeichnen.
Der Sprachkundige: Der Kuß ist ein onomatopoetisches Wort, da in demselben
das Schnelle der Handlung durch den kurzen Vokal vortrefflich nachgeahmt
wird.
Der Altertumsforscher: Der Kuß ist eine von den Griechen und Römern auf uns
überkommene Sitte, über deren wahre Bedeutung man nicht im reinen ist.
Wahrscheinlich ist er ein Sinnbild der die Erde treffenden Sonnenstrahlen und
als solcher mit dem ganzen Sonnenkultus aus dem Orient stammend.
Der Schwärmer: Der Kuß ist eine symbolische Handlung, in welcher das Herab^
neigen des Himmels zur Erde und ihre mystische Vereinigung dargestellt wird.
Der Philosoph: Der Kuß ist das Sichfortbewegen des Begriffs der Lippen, wodurch
eine quantitative Differenz des Seins sich in der quantitativen Differenz des
anderen Seins so setzt, daß daraus die Identität des Subjekt^Objektes und
IdeahRealen entsteht.
Der Witzling: Der Kuß ist der Guß einer Seele in eine andere. Das Zusammen^
pressen der Lippen ist das Pressen der Zitrone in die fade Limonade des Lebens.
Dieser Druck ist der Ausdruck des Eindrucks, den das Herz erhalten hat.
Er ist der einzige Druck, der nachher keiner Zensur unterworfen wird, — und
hier haben wir Preßfreiheit.
Der Jurist: Der Kuß ist gar nichts, denn er läßt sich weder als dingliches Recht,
noch als Obligatio auffassen. Einige haben ihn zum Familienrecht gerechnet
und ihn nach Analogie der Dos behandeln wollen; allein die L. 74. D. de dote
constit. läßt sich durchaus nicht auf den Kuß anwenden. Am ehesten könnte
man das Küssen als eine donatio inter vivos auffassen.
Der Liebende: Der Kuß ist — der Himmel!
(Aus den „Fliegenden Blättern" 1901)
Die Balancierstange. Vater und Sohn unterhalten sich über einen Seiltänzer.
Sohn: Vata, wat hat der denn da ’forne Stange?
Vater: Det's seine Blangsierstange.
Sohn: Zu wat braucht er denn die?
Vater: Da halt er sich dran feste.
Sohn: Ick denke, er brauch sich nich halten — er looft so?
Vater: Schafskopp! An wat muß er sich doch halten; sonst fallt er ja runta.
Sohn: Aber, Vata — wenn nu die Blangsierstange fallt?
Vater: Unsinn! Wovon soll se denn fallen? Er halt ihr ja feste.
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Der Naturforscher: Der Kuß ist das Vereinigen zweier entgegengesetzter Pole, aus
welchen derselbe gleichsam als elektrischer Funke hervorspringt.
Der Moralist: Der Kuß ist das Zeichen der Gemeinschaft des Leibes und kann
daher rechtmäßig nur in der Ehe statthaben.
Der Arzt: Der Kuß ist diejenige Art der Bewegung der Labialmuskeln, durch
welche die Lippen erst gepreßt, dann plötzlich losgelassen werden; der Kuß
ist daher streng wissenschaftlich als eine Art von Krampf zu bezeichnen.
Der Sprachkundige: Der Kuß ist ein onomatopoetisches Wort, da in demselben
das Schnelle der Handlung durch den kurzen Vokal vortrefflich nachgeahmt
wird.
Der Altertumsforscher: Der Kuß ist eine von den Griechen und Römern auf uns
überkommene Sitte, über deren wahre Bedeutung man nicht im reinen ist.
Wahrscheinlich ist er ein Sinnbild der die Erde treffenden Sonnenstrahlen und
als solcher mit dem ganzen Sonnenkultus aus dem Orient stammend.
Der Schwärmer: Der Kuß ist eine symbolische Handlung, in welcher das Herab^
neigen des Himmels zur Erde und ihre mystische Vereinigung dargestellt wird.
Der Philosoph: Der Kuß ist das Sichfortbewegen des Begriffs der Lippen, wodurch
eine quantitative Differenz des Seins sich in der quantitativen Differenz des
anderen Seins so setzt, daß daraus die Identität des Subjekt^Objektes und
IdeahRealen entsteht.
Der Witzling: Der Kuß ist der Guß einer Seele in eine andere. Das Zusammen^
pressen der Lippen ist das Pressen der Zitrone in die fade Limonade des Lebens.
Dieser Druck ist der Ausdruck des Eindrucks, den das Herz erhalten hat.
Er ist der einzige Druck, der nachher keiner Zensur unterworfen wird, — und
hier haben wir Preßfreiheit.
Der Jurist: Der Kuß ist gar nichts, denn er läßt sich weder als dingliches Recht,
noch als Obligatio auffassen. Einige haben ihn zum Familienrecht gerechnet
und ihn nach Analogie der Dos behandeln wollen; allein die L. 74. D. de dote
constit. läßt sich durchaus nicht auf den Kuß anwenden. Am ehesten könnte
man das Küssen als eine donatio inter vivos auffassen.
Der Liebende: Der Kuß ist — der Himmel!
(Aus den „Fliegenden Blättern" 1901)
Die Balancierstange. Vater und Sohn unterhalten sich über einen Seiltänzer.
Sohn: Vata, wat hat der denn da ’forne Stange?
Vater: Det's seine Blangsierstange.
Sohn: Zu wat braucht er denn die?
Vater: Da halt er sich dran feste.
Sohn: Ick denke, er brauch sich nich halten — er looft so?
Vater: Schafskopp! An wat muß er sich doch halten; sonst fallt er ja runta.
Sohn: Aber, Vata — wenn nu die Blangsierstange fallt?
Vater: Unsinn! Wovon soll se denn fallen? Er halt ihr ja feste.
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