Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0371
DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:Molzahn, Ilse: Aus Mariannens Tagebuch
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Werner Bürger
AUS MARIANNENS TAGEBUCH
Von
ILSE MOLZAHN
Sonntag, 26. April ip...
Familientag! Großmama schmückte wie üblich die Tafel. Sie richtete wieder^
holt das Lorgnon auf mich und sagte: „Nana wächst." Man antwortete mit:
„Hm." — Der Zitronencreme war dieses Mal mißraten, Minna bekam einen
leichten Anpfiff... Zum Kaffee erschien der Bildhauer Attenhöfer, Mamas speziell
ler Freund. Ich kann ihn nicht leiden, weil er immer allen Leuten erzählt, er
habe mich einmal im Steckkissen getragen. Früher nannte ich ihn „Onkel", aber
jetzt rede ich ihn überhaupt nicht mehr an. Er hatte gute Laune, weil Auftrag
zu einer Brunnenfigur. Meist nimmt er keine Notiz von mir, aber heute wandte
er sich leutselig an mich und fragte, ob ich wirklich das Abitur machen wolle.
Er sollte wissen, daß man sich darüber in Untersekunda noch keine Gedanken
macht. Ich antwortete daher, eigentlich fuhr es mir nur so heraus: „Wenn ich in
der Prima noch keinen Geliebten habe, wahrscheinlich, sonst nicht!" Alle waren
entsetzt, aber Attenhöfer lachte und sagte zu Großmama: „Nehmen Sie es nicht
so tragisch, gnädige Frau, für Nana bedeutet Geliebter ja kein fait accompli,
sondern nur eine imaginäre Gestalt, um die sich ihre Gefühle ranken." Darauf
warf er mir aus seinen mausgrauen Sammetaugen einen blinzelnden Blick zu,
den ich aber übersah, und bat Mama, doch zu erlauben, daß ich — ausgerechnet
ich — ihm zu seinem Auftrag Modell stände. Großmama war selbstverständlich
entsetzt, aber Mama sagte gleich ja, weil sie Attenhöfer zu gern einen Gefallen
tut. Und schließlich einigten sie sich auf Badeanzug.
Ich suchte danach. Aber in dem blauen Trikot, der mir einigermaßen steht,
sind die Motten. Hoffentlich kann Minna die Löcher stopfen...
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