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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 4
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Hartmann, Walther Georg: Der Unfug des Bescheidwissens
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0295

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DER UNFUG DES BESCHEIDWISSENS
Von
WALTHER GEORG HARTMANN
Die Sonderstellung der Metropolen wird seit Jahren von verschiedenen
Seiten her angebröckelt und abgebaut. Die Unterschiede zu den aus den
Träumen aufgeschreckten Kleinstädten verschieben sich immer mehr von der Art
in den Grad. Auch durch Schneidemühl spült — nur weniger heftig — der Verkehr
mit Stromlinie und Kompressor. Nach allerneuestem Schick hat sich auch die
Theres in Feldafing ihr Abendkleid geschnittmustert — höchstens vierzehn Tage
später, als die jüngste „Kreation" im Boulevard^Schaufenster stand. Am Schwarm
der Weltstädte vermittelt vollen Anteil auch die flimmernde Leinwand in Eutin,
und zum Kino kam vor allem das Radio, um den Buxtehuder nicht anders als den
ja auch nur auf den Lautsprecher angewiesenen Berlin^Wilmersdorfer sogleich
teilnehmen zu lassen an dem, was los ist.
Gleichlaufend mit diesem Abbau der Sonderstellung vergrößert sich indessen
ein Geltungsvorsprung der Metropolen auf anderem Gebiete. Die wachsende
Zentralisierung läßt ihnen einen neuen Nimbus strahlen, einen neuen Komplex
von Vorrechten, Blendung und Bluff hoch über dem wohltuenden Neid der Pro^
vinz: Die Bewohner der Weltstädte sitzen neben dem Schaltwerk oder gar auf dem
Druckknopf der Geschichte. Sie wissen Bescheid. Über alles. Und genau. Sie schnupf
pern den Originaldampf der Orakel. Sie haben — - sozusagen in Dauerstellung —
das Ohr am Türritz der Regierungszimmer.
Wenn Herr Martin, Gemüsehändler mit Bäuchlein und bescheidenem Umsatz
aus Berlin (Paris, London . . .) zur Beerdigung einer Tante in die Provinz kommt,
so fragt ihn, wer immer nur die glückliche Gelegenheit findet, mit aufmerksamem
Ernst, mit hochachtungsvoller Gläubigkeit und mit feierlichem Lerneifer, wie er
sonst nur bei Interviews als guter Ton eingeführt ist: „Und was sagt man in Berlin
(Paris, London .. .) dazu? Und was beabsichtigt jetzt die Regierung??"
Dem erst überraschten, aber schon geschmeichelten Herrn Martin bleibt nichts
anderes übrig als: Bescheid zu wissen. Er kann den hohen Ruf seiner Mitbürger
nicht aufs Spiel setzen durch das Eingeständnis seiner allgemein üblichen Ahnungs^
losigkeit. Vertrauen spornt an. Also spricht er von den Absichten der Regierung
und deutet auch sonst mancherlei an, was nicht in den Zeitungen steht.
Wenn die Herren Martins das zweitemal aus Berlin (Paris, London ...) in die
Provinz fahren, sind sie nicht mehr überrascht, sondern präpariert. Und beim
dritten Male überraschen sie ihrerseits die Mitwelt (falls dieser Ausdruck für gänz^
lich uneingeweihte Zeitgenossen nicht übertreibt), durch ihre Miü und Voraus^
wisserschaft.
Und nach dem Bescheidwissen bewerten sich nun die Weltstädter auch untere
einander. Die hinter dem Tempo zurückgebliebenen Gemüter, die man mitleidig
in ihrer Naivität beläßt, haben nur das erfahren, was alle gedruckt lesen können.
Mehr wissen, besser und anders wissen — erst da beginnt die metropolitanische

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