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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 10
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Zickler, Arthur: Als Wallace-Leser in London
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0849

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ALS WALLACE=LESER IN LONDON
Von
ARTUR ZICKLER
ll^an konnte ja doch wirklich nicht ahnen, was man damit anrichtete, wenn
man (etwa mit der Sorgfalt, mit der man eine Feuerzangen-Bowle ansetzt)
sich so einen geräucherten Männer-Märchen-Abend zusammenbaute: mit Pyjama,
Kautsch, Stehlampe und Wallace-Roman, von den kleineren Zutaten abgesehen.
Schnell schwebte man, mit angezogenen Beinen, im Zeichen des Zauberspruches,
wonach es unmöglich ist, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu werden, in jene
seltsam gegenständliche Unwirklichkeit, die nur der in der Wolle gefärbte
Kriminalschmöker heraufbeschwören kann. Man sitzt darin wie in einer Bade-
wanne: mit einer neuen Haut, Wonne in allen Poren.
Die Zeit verfliegt wie Kampferspiritus, man wird zum Kinde, haßt die
Schurken, liebt die rauhen, aber redlichen Männer — mehr aber noch das ge-
hetzte Reh, das britische Gibson-Schmaltier von vollendeter Gestalt, unvergleich-
lichem Haar, zartester, angenehm durchbluteter Haut, reinem, jedoch kaltblüti-
gem Herzen (genaue Größe, Brustumfang, Haar- und Augenfarbe verschweigt
Wallace, um dem Eigengeschmack des weitverbreiteten Lesers keinen Quer-
schläger zu verpassen). Wir glauben an Grace trotz aller Mißverständnisse, die
auf sie gehäuft werden, selbst trotz der Erbmasse ihres liebevollen, aber willens-
schwachen und darum Wechsel fälschenden Vaters — und siehe, wir taten recht
daran; wir zittern um den furchtlosen, wohlgeschnittenen Patrick, doch nur an-
genehm, weil wir wissen, daß der (das) Gute siegen wird und Patrick uns (und
Grace) erhalten bleibt; und richtig entpuppt sich zum Schluß als der negative
Übermensch gerade einer, den wir nur dann richtig hätten vermuten können,
wenn wir Seite 21 mit mehr als Verstand gelesen hätten. Wenn wir das alles
ganz genau wissen, ist es drei Uhr morgens.
Solche Wallace-Abende schienen mir, wie gesagt, menschlich, aber bedenken-
frei, schlafraubend, aber nicht schreckhaft; denn man weiß ja doch, daß das
nächtliche Glucksen im Flur kein unterdrückter Todesschrei ist, sondern von der
Gasuhr kommt, daß der unverdünnte Whisky unter der Stehlampe nur Leuna-
Tarragona ist, die Glocke der Reinickendorfer Kirche kein Big Ben und der
Funkturm nicht O'Connors bleiche Mordlaterne. Man bleibt in den Pantinen.
Und wenn man auch gewillt ist, um mit Mussolini zu sprechen, gefährlich zu
leben, so doch nicht immer und nicht gerade nachts; darum wirkt es nach einer
Wallace-Orgie beruhigend, auf den Balkon zu treten, in den Berliner Himmel
zu schauen und sich zu vergegenwärtigen, daß einem am Wedding Square, in der
Prenzlauer Road und der Tauentzien Avenue, vom Verkehr abgesehen, so leicht
nichts Böses widerfahren kann.
Doch man wähne nicht, daß man damit Herrn Wallace losgeworden sei. Er
sitzt fest wie ein Oktoberhusten. Er ist eine gefährliche Sache mit Zeitzünder.
Vor einer Reihe von Jahren saß ich ihm einmal in einem Weinhaus der Leipziger
Straße gegenüber: er war ein wenig auffälliger Herr mit einem Bauch und einem

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