Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 16.1936

DOI issue:
Heft 9
DOI article:
Illusionen
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0772

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ILLUSIONEN
Illusionen sind das Existenz-Minimum der Menschen. Nimm sie ihnen
und sie sind nicht mehr lebensfähig!
Illusionen sind wie Kinderluftballons: sie platzen mit lautem Knall, doch
man freut sich auch noch des Knalls.
Die Illusion: die rosarote Brille, durch die wir die Welt betrachten.
Wer keine Illusionen hat, hat wenigstens irgendeinen kleinen Privat-
spleen. Wer auch den nicht hat, sehnt sich danach.
Illusion: ein Blumenbeet, das man heimlich mit imaginärer Gießkanne be-
gießt, eine Südsee-Insel, von der man träumt, ein stilles Glück im Winkel, in
dessen Herddämmerdunkel keine Verstandeslampe hineinzuleuchten vermag.
Zauberkünstler sind sozusagen Illusionisten zur Potenz erhoben: sie
machen Illusionisten — den Menschen — Illusionen vor.
Man stirbt eher an einer Erkenntnis denn an einer Illusion. Einbildungen
wirken lebensverlängernd. Genau wie die Dummheit.
Der Buchtitel: „Das Herz, von einem Traum genährt" könnte über dem
nie endenden Kapitel: „Die Geschichte der Menschheit" stehen.
Columbus und Don Quichotte: die beiden größten Illusionisten. Alle ihre
Siege, alle ihre Niederlagen flossen aus der einen Wurzel: Glaube an die
verzaubernde Macht der schönen Einbildung. Napoleons Illusionen hätten
beinahe den politischen Erdteil Europa geschaffen.
Illusionismus oder die Philosophie des „Als ob". Als ob nicht alles, was
wir denken, eine Illusion wäre!
Die Illusion und das Absolute sind Antipoden, äußerste Pole, durch
Meere und Abgründe getrennt. Beide haben etwas Gemeinsames: sie lassen
sich nicht beweisen!
Auch die Erkenntnis ist eine Illusion: das menschliche Gehirn ist einer
absolut gültigen Erkenntnis nicht fähig. Richard Drews

556
 
Annotationen