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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 6
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Haacke, Wilmont: Mietskasernen als Zeugen
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0473

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Otto Panfok

MIETSKASERNEN
ALS ZEUGEN
Von
WILMONT HAACKE
Nackte Weiber, vollbusig bis dort
hinaus und mit strotzender Pracht
der Schenkel aufgebauscht, tragen die
Reihe der Balkons, die den vierten
Stock des großen Mietshauses imWesten
der Stadt umsäumen. Aus einem reichen
Kelch ölgelackter Blattknospen, die
ihnen als merkwürdige Strümpfe bis
knapp an den ersten Wadenbogen
reichen, wachsen sie mit übertriebener
Gebärde auf. Den Blick wenden sie
steil zum Himmel. Über dem schräg
geneigten Köpfchen aus Kalk und Gips

verschränken sie die fleischigen Arme, die sich am naturalistisch ausgefeilten
Haarknoten über dem Nacken treffen. Mit beiden Händen und dem Haar aus
Stuck halten sie des Daches Zinnen. Nur an den Rundungen dieser Figuren einer
völlig mißverstandenen Antike vorbei darf das Auge den freien Blick auf die
lärmende Straße unten mit ihren glatten Autos suchen. Das Gießen der Blumen
verlangt Verrenkungen, die sich nur ein sportlicher Körper leisten kann. Die
Göttin aus der Gründerzeit spendet reichhaltig Schatten. Die Silhouetten ihrer
Formen fiel einst auf die verstaubten Palmenwedel einer Büchsenpflanze, die allein
den hochherrschaftlichen Balkon verzieren durfte.
Die Fenster lassen nichts zu wünschen übrig. Der Baumeister hatte sie wohl als
gotische Spitzbögen geplant und an einige Quadratmeter bleischwerer Butzens
scheiben gedacht. Doch wurden diese in das Treppenhaus verbannt. Ein jüngerer
Innenarchitekt, der sich schon bis zum Jugendstil emanzipierte, hat statt dessen
bandwurmartige, giftgrüne Schleifen, ursprünglich als Lilienstengel konzipiert, auf
die Scheiben des sogenannten Oberlichtes geklebt. Das grüne Konfetti endet regele
mäßig in kleinen neckischen Frauenköpfen, die wie Nymphen romantisch aus der
Entengrütze verträumter Schloßweiher zum Licht tauchen.
Vom Herrenzimmer aus kann man durch die vorgebauten Schießscharten, die
dem Arbeiter am Schreibtisch die glückliche Illusion geben, er sei gesicherter Burg>
herr, die gegenüberliegenden Fassaden der Wohnhäuser mit der kleinen Kanone
bestreichen, die Großvater als Miniaturandenken vor der niegeöffneten Bibliothek

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