AMERIKANISCHES COLLEGE
Der folgende Artikel ist von einer deutschen Austausch-
studentin an einem amerikanischen College geschrieben.
Los Angeles, Ende Juli 1936.
Das ganze Leben läuft maschinenmäßig ab. Morgens noch traumschwer gehe
ich zum Waschraum und nehme den „shower" (Dusche). Nur schnell wach
werden, gleich heißt es sich eilen. — Dann rasch fertig anziehn, die Bücher
nehmen — den 10-Minutenweg zu der Halle, in der es Frühstück gibt, im Lauf-
schritt zurücklegen. Nach 8.30 Uhr bekommt man ja kein Frühstück mehr.
Andere Girls treffe ich auf dem Weg, ebenfalls hastigen Schritts, ein „Hallo"
ruft man sich zu, lachend und die ewig-gleiche Frage: „how are jou today" —
um die ewig-gleiche Antwort zu erhalten: „just fine, and you?" — Der Weg
führt an Tennisplätzen und grünen taufrischen Wiesen vorbei. Könnte man ihn
in Ruhe zurücklegen, so wäre es ein herrlicher Morgenspaziergang — aber das
geht ja nicht, denn es eilt immer. Man stürmt in den Speisesaal: hier eine Menge
ungedeckter schwarzpolierter Tische, die Wände hellgrün, stickig die Luft, das
Atmen fällt schwer. Man stellt sich hinten an der Reihe auf, die bis zur Mitte
des Saals steht. Ein Blick auf die Uhr: — wenn ich in 3 Minuten drankomme,
dann habe ich noch 5 Minuten Zeit zum Essen und 3 Minuten für den Weg bis
zur Klasse. Vor mir steht die Leiterin meiner Halle — hallo, how are jou...
und beide denken wir dabei, daß wir die gedörrten Pflaumen nicht mögen. Die
stehen vor uns auf dem Büfett.
Man wählt in der Eile, was man erwischen kann, nicht, was man mag. Das
braune Lacktablett, auf dem Serviette, Besteck und Tasse schon bereitliegen,
wird schon weitergeschoben. Ohne zu überlegen, greift man nach den bereit-
stehenden Getränken, Kaffee oder Schokolade, Eiswasser, nur schnell zum Tisch
damit — noch 5 Minuten! Virginia, die italienische Austauschstudentin, setzt sich
dazu. Sie hat schon eine 8-Uhr-Klasse gehabt — kommt rasch, zwischen dieser
und der nächsten das Frühstück zu nehmen. „Hurry up" — noch 2 Minuten:
Der Kaffee ist zu heiß, also stehen lassen. „Have a nine o'clock." Ja. Gehen
wir zusammen. Hinter mir zwei Schülerinnen. Kämmen sich die Haare noch
auf dem Weg. -
Endlich in der Klasse. Als ich ins Zimmer trete, Reden, Lachen. Von mir nimmt
man vorläufig keine Notiz. „Guten Morgen" — „Guten Morgen". Niemand
steht auf, man unterhält sich weiter. „What guy did you go with, last night?"
„Bitte, lesen Sie, Seite 14!" — Betty malt sich die Lippen. Wir lesen „Parzival".
Die Zeit schleicht dahin — ich bitte um Aufmerksamkeit — auf amerikanische
Art, umsonst. — Da erzähle ich einen Witz: großes Gelächter — und endlich sind
alle wach, hören zu. Nur jetzt die Gunst nicht mehr verlieren. Alle hören zu.
Pat gähnt aber bald laut, packt die Bücher zusammen. Es hat noch nicht geklingelt.
Helen schreibt noch immer an ihrem Brief. Ich spreche jetzt vom „reinen Tor".
Endlich die Klingel. „See you to-morrow"... Eine Zigarette wäre jetzt eine
Wohltat. Aber die ist verpönt, man raucht nicht auf dem „Campus". Auch nicht im
eigenen Office. Auch nicht im Freien — warum denn auch? „It just is'nt done."
Ich habe jetzt 8 Minuten Pause, dann kommt die nächste Stunde: Goethe —
da Telephon — warum ich meinen Stundenplan für die letzte Woche noch nicht
552
Der folgende Artikel ist von einer deutschen Austausch-
studentin an einem amerikanischen College geschrieben.
Los Angeles, Ende Juli 1936.
Das ganze Leben läuft maschinenmäßig ab. Morgens noch traumschwer gehe
ich zum Waschraum und nehme den „shower" (Dusche). Nur schnell wach
werden, gleich heißt es sich eilen. — Dann rasch fertig anziehn, die Bücher
nehmen — den 10-Minutenweg zu der Halle, in der es Frühstück gibt, im Lauf-
schritt zurücklegen. Nach 8.30 Uhr bekommt man ja kein Frühstück mehr.
Andere Girls treffe ich auf dem Weg, ebenfalls hastigen Schritts, ein „Hallo"
ruft man sich zu, lachend und die ewig-gleiche Frage: „how are jou today" —
um die ewig-gleiche Antwort zu erhalten: „just fine, and you?" — Der Weg
führt an Tennisplätzen und grünen taufrischen Wiesen vorbei. Könnte man ihn
in Ruhe zurücklegen, so wäre es ein herrlicher Morgenspaziergang — aber das
geht ja nicht, denn es eilt immer. Man stürmt in den Speisesaal: hier eine Menge
ungedeckter schwarzpolierter Tische, die Wände hellgrün, stickig die Luft, das
Atmen fällt schwer. Man stellt sich hinten an der Reihe auf, die bis zur Mitte
des Saals steht. Ein Blick auf die Uhr: — wenn ich in 3 Minuten drankomme,
dann habe ich noch 5 Minuten Zeit zum Essen und 3 Minuten für den Weg bis
zur Klasse. Vor mir steht die Leiterin meiner Halle — hallo, how are jou...
und beide denken wir dabei, daß wir die gedörrten Pflaumen nicht mögen. Die
stehen vor uns auf dem Büfett.
Man wählt in der Eile, was man erwischen kann, nicht, was man mag. Das
braune Lacktablett, auf dem Serviette, Besteck und Tasse schon bereitliegen,
wird schon weitergeschoben. Ohne zu überlegen, greift man nach den bereit-
stehenden Getränken, Kaffee oder Schokolade, Eiswasser, nur schnell zum Tisch
damit — noch 5 Minuten! Virginia, die italienische Austauschstudentin, setzt sich
dazu. Sie hat schon eine 8-Uhr-Klasse gehabt — kommt rasch, zwischen dieser
und der nächsten das Frühstück zu nehmen. „Hurry up" — noch 2 Minuten:
Der Kaffee ist zu heiß, also stehen lassen. „Have a nine o'clock." Ja. Gehen
wir zusammen. Hinter mir zwei Schülerinnen. Kämmen sich die Haare noch
auf dem Weg. -
Endlich in der Klasse. Als ich ins Zimmer trete, Reden, Lachen. Von mir nimmt
man vorläufig keine Notiz. „Guten Morgen" — „Guten Morgen". Niemand
steht auf, man unterhält sich weiter. „What guy did you go with, last night?"
„Bitte, lesen Sie, Seite 14!" — Betty malt sich die Lippen. Wir lesen „Parzival".
Die Zeit schleicht dahin — ich bitte um Aufmerksamkeit — auf amerikanische
Art, umsonst. — Da erzähle ich einen Witz: großes Gelächter — und endlich sind
alle wach, hören zu. Nur jetzt die Gunst nicht mehr verlieren. Alle hören zu.
Pat gähnt aber bald laut, packt die Bücher zusammen. Es hat noch nicht geklingelt.
Helen schreibt noch immer an ihrem Brief. Ich spreche jetzt vom „reinen Tor".
Endlich die Klingel. „See you to-morrow"... Eine Zigarette wäre jetzt eine
Wohltat. Aber die ist verpönt, man raucht nicht auf dem „Campus". Auch nicht im
eigenen Office. Auch nicht im Freien — warum denn auch? „It just is'nt done."
Ich habe jetzt 8 Minuten Pause, dann kommt die nächste Stunde: Goethe —
da Telephon — warum ich meinen Stundenplan für die letzte Woche noch nicht
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