Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0031
DOI issue:
Heft 1
DOI article:Schramm, Wilhelm von: Theater ohne Pause
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THEATER OHNE PAUSE
Von
WILHELM V. SCHRAMM
ns Theater geht man zur Gesellschaft, in den Film allein oder zu zweien allein,
froh über die Dunkelheit, die einen dort, eingesponnen in schattenhafte Wunsche
träume, zwei Stunden lang umfängt. Der Lärm der Musik, das Schnarren mensch^
lieh seinsollender Stimmen und das hartnäckige Surren der Apparatur nimmt
man gerne mit in Kauf vor dieser wohltätigen Dämmerung, die sich in steter
Verwandlung mit Schattenspielen füllt und phantastische Lichtzeichen wie vor
einem inneren Auge vorübergleiten läßt. Der primitive Zauber der modernen
Laterna magica als bewegte Photographie des Lebens muß dabei von einem Ge^
schlecht besonders wohltätig empfunden werden, dem Licht, Intellekt, Aufklärung
so grell in Hirn und Bewußtsein stechen, wobei es ein angenehmes Gefühl sein mag,
bei aller Isolierung doch mit einem gewaltigen Haufen Menschen vereint zu sein
und auf Vorgänge der Leinwand in allgemein menschlicher Weise zu reagieren.
Pausenlos bewegte Photographie des Lebens — das ist der Film. Er läßt nicht
zur Besinnung kommen, er entzieht sich dem Tagesbewußtsein wie der persöm
liehen Abwehr und ist auch erhaben über alle Konversation, die schon in der
Pause jedes Theaterstück richten und zugrunde reden kann. Von Anfang bis
zum Ende der Vorstellung ist man zum Stillschweigen gezwungen, ausgeschaltet
und unwillkürlich in den Bann unwirklicher Welten geschlagen, denen gerade die
Tatsachenmenschen sofort erliegen, weil die Dinge im Film als scheinbare Wirk^
lichkeiten getarnt und als täuschende Abbilder realer Ereignisse abgeschildert sind.
In dieser primitiven Schwarz^Weiß^Welt wäre eine Pause unmöglich und widern
sinnig — dieselbe Pause, die das Theater zu einem geselligen oder gesellschaft^
liehen Ereignis macht.
Das Theater ohne Pause hat mit dem isolierten Menschen dieses Zeitalters
zu tun und ist aus seiner Isolierung nicht wegzudenken, weil es die Empfindung
davon betäubt. Es ist das Opium der Vereinsamten und vom Leben Ausgeschlos^
senen, die in allen Schichten zu finden sind. Der Film ist nicht Kunst, an der man
Seele und Sinn stärkt, er ist einfach Ersatz und Schein des alltäglichen Lebens,
und es ist lächerlich, sich nur auszudenken, wie sich die Kinobesucher etwa mit
Mantel und Hüten, Regenschirmen und Einkaufstaschen in einer Pause aneinander
vorbeibewegen würden. Das Theater bringt immer ein Stück Gesellschaft und
damit bereits eine höhere Form des Lebens — der Film aber ist und bleibt ein
Ersatz, eine Vortäuschung und Nacherzählung für wirkliches Dasein, das den
Büro^, Ladens, Amts^ und Verkehrsmittelmenschen zwei Stunden lang angeboten
wird, damit sie ihre schaurige Isolierung vergessen und sich doch nicht in geistige
oder seelische Unkosten zur Überwindung ihres abgeschlossenen und abgeschie^
denen Lebens zu stürzen brauchen. Der Film vollendet die Krise der bürgerlichen
Gesellschaft und überwindet sie zugleich — wenigstens im Schattenspiel zieht ein
anderes und mit anderen gelebtes Leben, zieht die offene freie Welt im Traume
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Von
WILHELM V. SCHRAMM
ns Theater geht man zur Gesellschaft, in den Film allein oder zu zweien allein,
froh über die Dunkelheit, die einen dort, eingesponnen in schattenhafte Wunsche
träume, zwei Stunden lang umfängt. Der Lärm der Musik, das Schnarren mensch^
lieh seinsollender Stimmen und das hartnäckige Surren der Apparatur nimmt
man gerne mit in Kauf vor dieser wohltätigen Dämmerung, die sich in steter
Verwandlung mit Schattenspielen füllt und phantastische Lichtzeichen wie vor
einem inneren Auge vorübergleiten läßt. Der primitive Zauber der modernen
Laterna magica als bewegte Photographie des Lebens muß dabei von einem Ge^
schlecht besonders wohltätig empfunden werden, dem Licht, Intellekt, Aufklärung
so grell in Hirn und Bewußtsein stechen, wobei es ein angenehmes Gefühl sein mag,
bei aller Isolierung doch mit einem gewaltigen Haufen Menschen vereint zu sein
und auf Vorgänge der Leinwand in allgemein menschlicher Weise zu reagieren.
Pausenlos bewegte Photographie des Lebens — das ist der Film. Er läßt nicht
zur Besinnung kommen, er entzieht sich dem Tagesbewußtsein wie der persöm
liehen Abwehr und ist auch erhaben über alle Konversation, die schon in der
Pause jedes Theaterstück richten und zugrunde reden kann. Von Anfang bis
zum Ende der Vorstellung ist man zum Stillschweigen gezwungen, ausgeschaltet
und unwillkürlich in den Bann unwirklicher Welten geschlagen, denen gerade die
Tatsachenmenschen sofort erliegen, weil die Dinge im Film als scheinbare Wirk^
lichkeiten getarnt und als täuschende Abbilder realer Ereignisse abgeschildert sind.
In dieser primitiven Schwarz^Weiß^Welt wäre eine Pause unmöglich und widern
sinnig — dieselbe Pause, die das Theater zu einem geselligen oder gesellschaft^
liehen Ereignis macht.
Das Theater ohne Pause hat mit dem isolierten Menschen dieses Zeitalters
zu tun und ist aus seiner Isolierung nicht wegzudenken, weil es die Empfindung
davon betäubt. Es ist das Opium der Vereinsamten und vom Leben Ausgeschlos^
senen, die in allen Schichten zu finden sind. Der Film ist nicht Kunst, an der man
Seele und Sinn stärkt, er ist einfach Ersatz und Schein des alltäglichen Lebens,
und es ist lächerlich, sich nur auszudenken, wie sich die Kinobesucher etwa mit
Mantel und Hüten, Regenschirmen und Einkaufstaschen in einer Pause aneinander
vorbeibewegen würden. Das Theater bringt immer ein Stück Gesellschaft und
damit bereits eine höhere Form des Lebens — der Film aber ist und bleibt ein
Ersatz, eine Vortäuschung und Nacherzählung für wirkliches Dasein, das den
Büro^, Ladens, Amts^ und Verkehrsmittelmenschen zwei Stunden lang angeboten
wird, damit sie ihre schaurige Isolierung vergessen und sich doch nicht in geistige
oder seelische Unkosten zur Überwindung ihres abgeschlossenen und abgeschie^
denen Lebens zu stürzen brauchen. Der Film vollendet die Krise der bürgerlichen
Gesellschaft und überwindet sie zugleich — wenigstens im Schattenspiel zieht ein
anderes und mit anderen gelebtes Leben, zieht die offene freie Welt im Traume
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