Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 16.1936

DOI issue:
Heft 9
DOI article:
Stieber, Johans: Gastmähler wie sie jeder kennt
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0723

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext

Kaffeestündchen W. Helwig

GASTMÄHLER WIE SIE JEDER KENNT
Von
JOHANS STIEBER
L^inladungen sind heimliche Raubtiere aus dem Hinterhalt! Man hat
'— ✓ keine Ahnung, lebt völlig arglos seinen Tag, fühlt sich vielleicht
gerade restlos glücklich — da überfallen sie den wehrlos Überraschten. Ein
kurzer, aber aussichtsloser Kampf, und schon ist man — eingeladen. —
Im Treppenhaus begegnet man einem fremden Menschen, der möglicher-
weise, ja sogar ziemlich sicher, demselben Ziele zustrebt. Von Stufe zu
Stufe überlegt man sich einen Gesprächsanfang, um nach dem Klingeln
eine verlegen durchlächelte Viertelminute durchzumachen, an die man noch
lange denken wird.
Nun betritt man einen Salon voller süß lächelnder Menschen, denen
man süß lächelnd die Hand reicht, so daß man flüchtig die Vision einer
Bonbonfabrik hat. Zeitweilig sieht es direkt aus, als sei der Paradiesestraum
einer in Liebe geeinten Menschheit bereits grinsend realisiert!
Nun setzt man sich hin und weiß nicht, was man reden soll. Denn in
dieser Situation, wo alle dreißig Sekunden neue Gäste begrüßt werden
und alles auf das Essen wartet, hat das Gespräch einen nervösen, fieber-
haft flatternden Charakter — es ist ein kaltgewordener Motor, der zwanzig-
mal angelassen wird und doch nicht fortrattert. Vom Wetter kann man
nicht sprechen, da das Nichtsprechenkönnen bedeutet. Danken wir Gott,
daß wir das Kino haben: „Haben Sie schon Tatamtata in Terumtumtum
gesehen? ...," und der seelische Kontakt ist geschlossen. In ganz verzweifel-
ten Fällen aber empfiehlt es sich, einen beliebigen Gegenstand auf dem
Tisch zu ergreifen und zu sagen: „Ach, wie schön... von wo haben Sie

523
 
Annotationen