Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

DOI Heft:
Heft 6
DOI Artikel:
Stendel, Wolfgang: "Hochwohlgeboren"
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0461

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

Pudlich

Musikstunde

„HOCHWOHLGEBOREN"
Von
WOLFGANG STENDEL
ir haben das selbst noch geschrieben, das schnörkelverzierte „I. H." links
oben auf dem „Couvert". Eigentlich hätte es sehr schwungvoll geraten
sollen, aber das Schreiben war noch zu mühevoll damals. Bis zum Ballen war die
Hand voll Tinte, ehe noch, nach dem sechsten Anlauf, das L von „Liebe Mutti"
die Form gefunden hatte, die es haben sollte. Für das „I. H." kam zu den schwierig
gen Buchstaben noch die Schwierigkeit, die rechte Höhe und den gehörigen Ab^
stand zu finden. Im ganzen erforderte das Werk einen vollen Sonntag. Das war,
auf vorgezogenen Bleistiftlinien, der erste Ferienbrief nach Hause.
Als dann die Ferien zu Ende waren, galt es aufs neue einen Brief zu schreiben,
einen Dankesbrief an die gastfreundliche Tante. Der passende Wortlaut war schon
in Erfahrung zu bringen. Aber als dem Steppke wiederum ein „I. H." abgenötigt
werden sollte, nein, zu Hause war er doch nicht so blindgläubig und fragte, was
denn das eigentlich zu bedeuten habe. „Ihrer Hochwohlgeboren". -— „Och,
Quatsch! Das schreib ich nicht." Der kleine Mann ahnte nicht, daß er damit ein
Zeitalter verabschiedete.
Die alte Formel war älter als die Generation, die dem schreibscheuen Sechse
jährigen seinen Willen ließ. Sie war schon um die Jahrhundertwende statt Anrede
Adressensiegel, aber auch als solches noch soweit bedacht, daß für den höheren
der mittlere Beamte, für den Prinzipal der Prokurist nur „wohlgeboren" waren
und der wohlgeborene Kaufmann als Laufburschen einen Sohn „achtbarer Eltern"

333
 
Annotationen