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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 7
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Scher, Peter: Reise ins Innere
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0581

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REISE INS INNERE
Von
PETER SCHER
Im Wind, der spielend über reifes Kornfeld geht
und feine Ähre bricht,
im Traum voll Süße, der das Dunkel übersteht,
vergiß es nicht,
ist Sinn von jenem Sinn, den du entfachst,
wenn du dich selbst zum Ruhepunkt der Schöpfung machst.

Auch große Kinder waren einmal weise — als sie noch kleine Kinder waren.
Wie unverdorbene Tiere übten sie unbewußt die weise Wohltat der Entspannung,
die — bitte, sagen Sie es weiter! — das große Geheimnis jeder Leistung ist (und
der besonderen natürlich um so mehr).

Allerdings hatten die kleinen Kinder es leicht, da sie noch nichts vom tieferen
Sinn der Dinge wußten ... wie der sechsjährige Knirps mit kühner Stirn ein
Rad besteigt, drauflos fährt und, obgleich seine Füße die Pedale kaum erreichen
können, im nächsten Augenblick das Ding beherrscht, wogegen sich der Würdige
und Wissende beim ersten Versuch die Nase zertrümmert.
Jahrtausende hat es gedauert, bis den Menschen die Erleuchtung kam — oder
doch immer wieder einmal kam — daß es zugleich zweckmäßiger wie beglückender
sei, dem Nebenmenschen freundlich und hilfreich entgegenzutreten, als ihn ohne
vorherige Anfrage k. o. zu schlagen. Wie soll man sich demgegenüber wundern,
daß das große Kind Mensch nicht von heute auf morgen begreifen lernen konnte,
was alles dazu gehört, erkenntnismäßig auf die praktische Höhe seiner „kleinen"
Kindheit zu gelangen, die spielend Genie betätigte, indem sie einfach war wie
Gott sie geschaffen hatte: Befähigt, sich jeden Tag „wie neu" zu fühlen.
Der ungewöhnlich begabte Mensch hat diesen für den Durchschnitt so er^
schreckend weiten Weg zum Kind in sich jederzeit zurücklegen können — das
ist das Zeichen seiner Auserwähltheit. Keinem von jenen, die wir staunend Berge
versetzen sahen, hätte das Wunder gelingen können, wenn ihm nicht jeweils
die Gabe zu eigen gewesen wäre, in einem privaten „Wochenende" über alle
Kräfte der Seele und des Gemüts wie über Truppen vor der Schlacht Heerschau
zu halten und sich mit ihnen restlos in Einklang zu bringen.
In bequemen Zeitläuften, als noch „höhere" Stände von „arbeitenden" Stän^
den unterschieden wurden und die erstgenannten, im vielfachen Besitz aller
Sicherungen des Lebens, an der Krankheit Langeweile dahinzusiechen fürchteten,
wurde als Heilmittel „Zerstreuung" angestrebt. Erst nach erstaunlichen Um^
schichtungen, die für alle und im Interesse aller eine immer stärker angreifende
Arbeitslast zur Folge hatten, wurde im Gegenteil „Sammlung" zum neuen Lebens^
gesetz erhoben. Das Begräbnis der Zerstreuung als vermeintlichen Mittels gegen
die Trägheit des Blutes und des Herzens fiel, bildlich gesprochen, auf den gleichen

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