Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0850
DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:Zickler, Arthur: Als Wallace-Leser in London
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großen, gleichmütigen Gesicht. Ich war sofort überzeugt, daß er durch einen
unterirdischen Gang hereingekommen war, und beobachtete sein Besteck, ob es
mit einem Schalldämpfer versehen sei. Erst wollte ich ihn ansprechen, doch dann
besann ich mich, daß ich nicht verkleidet war, schämte mich und ließ es bleiben;
doch stand ich immerhin soweit in seinem Banne, daß ich ihm wie ein Schatten
folgte, wenn auch nur bis zur Tür.
Wenn einem das mit Herrn Wallace geschieht, der gar kein Wallace-Typ
war, und in Berlin, das keine Kriminalroman-Aura hat — vermute, Leser, wie
ich London sah! Ich kreuzte mit einem Sachsen den Kanal, der nach England
fuhr, weil man nur dort wirklich gute Horoskope bekommt. Wir hörten Nebel-
hörner tuten und sahen den Schatten eines britischen Torpedobootes — das sicher
hinter einem Schurken her war, der mit dem englischen Thronschatz und einer
geknebelten schönen Frau dem Atlantischen Ozean zustrebte. Ich stand am Fenster
meines kleinen Zimmers im Charing Croß Hotel und blickte auf das abendliche
Gewühl des Strand hinab — da schellte der Fernsprecher. Was anderes konnte
das sein, als die brüchige Stimme, die mir im Auftrage des Grünen Frosches mit-
zuteilen wünschte, daß mir der Boß innerhalb von zwei Stunden in einer ver-
fallenen Fabrik an der unteren Themse zu erscheinen befehle? Es war aber nur
mein Sachse, mit der frohen Botschaft, daß in seinem Ascendenten die Fische eine
wundervolle Konstellation zum Jupiter besäßen. Darf ich bekennen, daß ich
meine Bedienerin in Lyons Teeroom daraufhin ansah, ob ein geheimes Leid um
ihren seit acht Tagen verschollenen Vater an ihr zehre? Kann es als albern
empfunden werden, daß ich weder Half-Moon-Street noch Threatneedle-Street
durchkreuzen konnte, ohne mich zu vergewissern, ob ich nicht „beschattet"
würde? Eine volle Stunde stand ich an Piccadilly Circus, ohne daß ein orangen-
farbener Rolls Royce mit abgeblendeten Lichtern die Shaftesbury Avenue hin-
aufraste. Die gleichen Chinesen, die mir in der Kantstraße immer als Inbegriff
beflissener Harmlosigkeit erscheinen, konnte ich in Limhouse nur als gelbe
Sadisten empfinden, die in ihren Opiumhöhlen mit Grace wer weiß was anstellen.
Jawohl: ich bin in die Vinestreet gegangen in der Hoffnung, Superintendent
Murray mit Kommissar Charlie Chan-Honolulu aus der Polizeiwache treten zu
sehen (was nicht mehr Edgar Wallace ist, sondern Earl Derr Biggers — aber
ich war nun einmal im Zuge); jawohl: ich bin in Old Balay gesessen mit dem
unheimlichen Gefühl, an einer Sache beteiligt zu sein, die nur mit und in
Dartmoor enden konnte. Ich stand auf der London Bridge und sah Sachen im
Wasser schwimmen, die sich nicht lange halten, hielt jeden Dritten, dem ich be-
gegnete, für einen Coroner, erblickte Grace McDuffy und Violet Yale in jedem
Weibe.
Und dennoch habe ich London als von der Wallacitis geheilt verlassen. Ich
kann das Rezept jedem Leidensgenossen nur bestens empfehlen: man kaufe sich,
nachdem man sich gelobt hat, um Scotland Yard einen hohen Bogen zu schlagen,
in der Regent Street den „Peter Pan", lese ihn abends auf einen Ritt durch —
und durchwandere am nächsten Morgen in fröhlicher Andacht Kensington Gardens.
Wem das nicht zu einem schöneren London verhilft — der bleibt für sein ganzes
Leben broschiert!
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unterirdischen Gang hereingekommen war, und beobachtete sein Besteck, ob es
mit einem Schalldämpfer versehen sei. Erst wollte ich ihn ansprechen, doch dann
besann ich mich, daß ich nicht verkleidet war, schämte mich und ließ es bleiben;
doch stand ich immerhin soweit in seinem Banne, daß ich ihm wie ein Schatten
folgte, wenn auch nur bis zur Tür.
Wenn einem das mit Herrn Wallace geschieht, der gar kein Wallace-Typ
war, und in Berlin, das keine Kriminalroman-Aura hat — vermute, Leser, wie
ich London sah! Ich kreuzte mit einem Sachsen den Kanal, der nach England
fuhr, weil man nur dort wirklich gute Horoskope bekommt. Wir hörten Nebel-
hörner tuten und sahen den Schatten eines britischen Torpedobootes — das sicher
hinter einem Schurken her war, der mit dem englischen Thronschatz und einer
geknebelten schönen Frau dem Atlantischen Ozean zustrebte. Ich stand am Fenster
meines kleinen Zimmers im Charing Croß Hotel und blickte auf das abendliche
Gewühl des Strand hinab — da schellte der Fernsprecher. Was anderes konnte
das sein, als die brüchige Stimme, die mir im Auftrage des Grünen Frosches mit-
zuteilen wünschte, daß mir der Boß innerhalb von zwei Stunden in einer ver-
fallenen Fabrik an der unteren Themse zu erscheinen befehle? Es war aber nur
mein Sachse, mit der frohen Botschaft, daß in seinem Ascendenten die Fische eine
wundervolle Konstellation zum Jupiter besäßen. Darf ich bekennen, daß ich
meine Bedienerin in Lyons Teeroom daraufhin ansah, ob ein geheimes Leid um
ihren seit acht Tagen verschollenen Vater an ihr zehre? Kann es als albern
empfunden werden, daß ich weder Half-Moon-Street noch Threatneedle-Street
durchkreuzen konnte, ohne mich zu vergewissern, ob ich nicht „beschattet"
würde? Eine volle Stunde stand ich an Piccadilly Circus, ohne daß ein orangen-
farbener Rolls Royce mit abgeblendeten Lichtern die Shaftesbury Avenue hin-
aufraste. Die gleichen Chinesen, die mir in der Kantstraße immer als Inbegriff
beflissener Harmlosigkeit erscheinen, konnte ich in Limhouse nur als gelbe
Sadisten empfinden, die in ihren Opiumhöhlen mit Grace wer weiß was anstellen.
Jawohl: ich bin in die Vinestreet gegangen in der Hoffnung, Superintendent
Murray mit Kommissar Charlie Chan-Honolulu aus der Polizeiwache treten zu
sehen (was nicht mehr Edgar Wallace ist, sondern Earl Derr Biggers — aber
ich war nun einmal im Zuge); jawohl: ich bin in Old Balay gesessen mit dem
unheimlichen Gefühl, an einer Sache beteiligt zu sein, die nur mit und in
Dartmoor enden konnte. Ich stand auf der London Bridge und sah Sachen im
Wasser schwimmen, die sich nicht lange halten, hielt jeden Dritten, dem ich be-
gegnete, für einen Coroner, erblickte Grace McDuffy und Violet Yale in jedem
Weibe.
Und dennoch habe ich London als von der Wallacitis geheilt verlassen. Ich
kann das Rezept jedem Leidensgenossen nur bestens empfehlen: man kaufe sich,
nachdem man sich gelobt hat, um Scotland Yard einen hohen Bogen zu schlagen,
in der Regent Street den „Peter Pan", lese ihn abends auf einen Ritt durch —
und durchwandere am nächsten Morgen in fröhlicher Andacht Kensington Gardens.
Wem das nicht zu einem schöneren London verhilft — der bleibt für sein ganzes
Leben broschiert!
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