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Raphael, Max
Von Monet zu Picasso: Grundzüge einer Ästhetik und Entwicklung der modernen Malerei — München: Delphin-Verlag, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.70532#0149
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Picasso 115
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in seiner Schönheit suchen, sondern in seiner gesetzmäßigen Gestaltung,
nicht mehr im Objektiven, sondern im Subjektiven. Für Picasso bedeutet
also das Sehen nicht mehr eine einfache Wahrnehmung der Dinge, son-
dern ein Wissen, entstanden durch ein neues Verhältnis zu ihren kubi-
schen Werten. Er zerlegt jeden natürlichen Gegenstand in eckige und
runde Flächen, die sich gegeneinander bewegen, und sieht ihn ferner
von allen Seiten, da er ja als der schlechten Unendlichkeit des Raumes
völlig anheim gegeben empfunden wird. Dann setzt er ihn — nach den
erörterten Prinzipien seiner Raumbildung — aus so vielen Ansichten (die
in der Natur nicht zugleich sichtbar zu sein brauchen) zusammen, als das
Ganze es notwendig erfordert. Diese Erkenntnis des Gegenstandes hängt
weder an diesem selbst noch an der Willkür des Subjektes, bedeutet also
keinerlei Schematismus und Abstraktion, sondern ein Wissen um seine
räumlichen Werte unter der Bedingung eines bestimmten Kontrastkon-
fliktes, so daß Picasso die verschiedensten Konzeptionen aus demselben
Gegenstand zieht. Aber nicht nur von oben her, vom Ganzen aus, son-
dern auch gleichsam von unten aus wird diesem Weg eine notwendige
Form aufgezwungen. Picasso will, daß sein neuer Kunstgegenstand durch
seine Formen meßbar sei. Ein Körper muß so gegeben sein, daß ein in-
telligenter Mechaniker ihn nachbauen kann. Es wird versucht, das Er-
lebnis in die unpersönliche Form des Ingenieurs zu zwingen. «—«.
Bei dieser Entstehung der Kunstform Picassos aus der Naturform würde
das von Künstlern so beharrlich von ihm geforderte reine Ornament die
größte Inkonsequenz seiner Kunst darstellen. Wie sehr sein schöpferisches
Denken mit dem Gegenstand verknüpft ist, zeigt besonders der Umstand,
daß sich seine Phantasie mit Vorliebe an die Artikulationen des Körpers
wrendet. Mit einem erstaunlichen Wissen um die natürlich-organische
Funktion der Glieder suchte er ihre Funktion unter dem Zwang eines
bestimmten Ausdruckes zu geben. Es gibt Frauenbrüste, die fremd an
ihrem Körper hängen wie angeflogene Vögel oder vorjährige Beeren, und
andere, die schon an den Schultern ansetzen und beherrschen. Es gibt
Arme, die wie die von Drahtpuppen lose im Körper sitzen, und Arme,
die den ganzen Körper mit in die weite Rundung ihrer Kurve ziehen.
Das geforderte reine Ornament ist aus Willkür gezogene leere Abstraktion
gegenüber den Dingen, materielle Reproduktion gegenüber dem psychi-
schen Erlebnis. Dagegen stellt Picassos Kunstform eine reine, organische
Funktion des Schaffenstriebes dar.

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