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Repertorium für Kunstwissenschaft — 9.1886

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O. Fischer: Die goldene Pforte zu Freiberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.66023#0339
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Die goldene Pforte zu Freiberg.

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der Sohn des Fleisches Gestalt, damit Niemand sei, der sich vor ihrer Wärme
verbergen könne. Mit Recht also schauen auf Maria als auf einen Mittelpunkt
Alle, die im Himmel wohnen und die in der Hölle sind; die uns vorange-
gangen sind, wir, die wir sind und die uns folgen werden; Kindeskinder und
deren Nachkommen1).« Was der Lehrer und Prophet seines Jahrhunderts
mit solchen Worten, das Nämliche etwa sagt die goldene Pforte mit ihren
Bildern.
Sonst, in den Zeiten der romanischen Kunst, hatte an gleicher Stelle,
im Bogenfelde des Kirchenportals, gewöhnlich ein ernstes Salvatorbild gethront,
etwa von den vier Evangelisten oder ihren Zeichen umgeben, und an die
kirchliche Symbolik erinnernd, nach welcher die Kirchenthür Christus, als den
Eingang in das Himmelreich, bedeutet. Hier erscheint nicht mehr der ver-
herrlichte Erlöser, sondern der Jesusknabe auf dem Schoosse seiner Mutter.
Dies bezeichnet den Uebergang zu jener Anschauung, welche in Maria die
Vermittlerin zwischen Christus und den Christen sieht und das Heil der
Menschen ganz von ihrer Mitwirkung abhängig macht. Diese Bedeutung der
Jungfrau ist an den grossen gothischen Portalen nicht selten zum Ausdruck
gebracht worden. Der die beiden Thüröffnungen trennende Mittelpfosten ist
häufig mit einer Marienstatue geschmückt, und die Seitenw’ände haben auf
Maria bezügliche Darstellungen in Statuen und kleinen Reliefs. Bisweilen
werden die Portale auch als Frauenthür, Porche de la mere de Dieu und
ähnlich bezeichnet. Mit diesen Portalen ist das von Freiberg zu vergleichen,
wenn auch hier an dem Mittelpfosten keine Madonna steht, sondern nur das
Relief des Bogenfeldes dieselbe gewissermaassen vertritt. Wie man die ganze
Bedeutung Christi auf Maria übertrug, so wurde sie an seiner Stelle als die
Thür dargestellt, durch welche man in die Kirche, die Gemeinschaft der Ge-
nossen des Himmelreiches, gelangt. Eine solche Anschauung war längst durch
die Exegese vorbereitet worden. Ezechiel 44, 1—2, heisst es nach der Vul-
gata: »Und er wendete mich zu dem Wege des Thores des äusseren Heilig-
thums, welches nach Osten schaute und verschlossen war. Und der Herr
sprach zu mir: Dieses Thor wird verschlossen sein, es wird nicht geöffnet
werden und kein Mann wird durch dasselbe hindurchgehen, weil der Herr,
der Gott Israel hineingegangen ist, und es wird dem Fürsten verschlossen
sein.« Dies Wort von dem verschlossenen Thor des Tempels, durch welches
kein Mann hindurchgehen sollte, wurde in. der kirchlichen Schriftauslegung
schon von Alters her als eine Weissagung auf die Geburt Christi von der
Jungfrau aufgefasst, und das entsprechende Bild im Mittelalter ebenso gern
von den darstellenden Künstlern als von den Predigern, Dichtern und in der
Liturgie angewendet. Zahlreiche zu Gebote stehende Beispiele übergehen wir,
um kurz zu sein.
Dem ganzen Mittelalter war die Bezeichnung der Mutter Jesu als einer
Thür geläufig; dem Gedankenkreise der Zeit angemessen und allgemein ver-
ständlich war es also auch, wenn der Künstler dieser Bezeichnung plastische

*) Scoci sermones de sanctis, Nro. 36, De annuntiatione B. M. V.
 
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