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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 9
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Scheibler, Ludwig: Franz Schuberts einstimmige Lieder, Gesänge und Balladen mit Texten von Schiller, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0143
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FRANZ SCHUBERTS einstimmige

LIEDER, GESÄNGE UND BALLADEN
MIT TEXTEN VON SCHILLER.

Von LUDWIG SCHEIBLER.
VI.

Kritische Übersicht der Literatur.

Hiermit ist das Thema dieser langen Foige
von Artikeln erledigt; aber wie ich mit einer
Vorgeschichte von Schuberts einstimmigen
„Liedern“ begann, so will ich hier schließen
mit einer kritischen Übersicht des Wichtigsten,
was bisher über sie, wie besonders über seine
Schillerlieder, geschrieben wurde. Um die zu
besprechenden Schriftsteller nicht zu kurz zu
behandeln und das Ganze doch nicht zu lang
auszudehnen, werde ich mich möglichst aut
die beschränken, welche durch Besprechung
einer Anzahl nicht allbekannter Stücke zeigen,
daß sie die Lieder wirklich genügend kennen.
Eine solche Sachkenntnis ist ja bei der hohen
Zahl von Schuberts Liedern (genau 595 für nur
eine Stimme mit Klavier allein) und dem
großen Umfange vieler eine starke Anforderung,
die bisher nur von wenigen der vielen erfüllt
wurde, welche das vertrauensvolle Publikum
über diese Lieder zu belehren pflegen (ein Bei-
spiel davon gebe ich S. 354 II u.).

Von Schuberts „Liedern“ erschienen op. 1—8
von April 1821 bis Mai 1822, dann bis zu seinem
Tode noch viele Hefte, etwa 200 Nummern ent-
haltend; und auch nachher, bis 1850, ging die
Herausgabe regelmäßig weiter, besonders durch
Diabellis 50 Lieferungen der „Nachgelassenen
musikalischen Dichtungen“. Dann folgte eine
Pause; aber von 1864 bis 1871 erschienen wieder
5 Hefte von je 5—6 Stück und 1872 ein starkes
von vierzig (bei Gotthard, Wien); bis dahin waren
es zusammen 426 Nummern. Von um 1862—72
bemächtigten sich die damals aufkommenden bil-
ligen Sammelausgaben (Holle, Senff, Breitkopf &
Härtel, Litolff, Peters) dieses Schatzes; die reich-
haltigste war die von Peters, die in 6 Bänden
(beendet 1872) 383 Nummern enthielt (es fehlten
nur die 6 Lieder von 1868 und die 40 von 1872).

Der erste Versuch einer zeitlich angeord-
neten Würdigung sämtlicher damals gedruckten
Lieder Schuberts ist der S. 167 II Note 2 ge-
nannte Aufsatz Jos. Kenners (gb. 1794) von 1859
(2 l/2 Spalten). Trotz vieler Irrtümer in Einzel-
nem und schauderhafter Druckfehler ist er mit
großer Sachkenntnis, Liebe und Verständnis
geschrieben. Kenner betont des Meisters all-
mähliche Entwicklung im Lied und steht schon
deshalb hoch über dem Gerede unwissender
Journalisten, wonach hier eigentlich keine Ent-
wicklung festzustellen sei. Ferner legt er mit
Recht großen Nachdruck auf die Berücksichti-
gung der Textdichter, die Schubert zu ver-
schiedenen Zeiten bevorzugte.

Kenners Betonung der jeweiligen Text-
dichter war von Einfluß auf Aug. Reiß-
mann (1825—1903), dessen oft wiederholte
Beschäftigung mit des Meisters Liedern bald
darauf beginnt; am eingehendsten hat er
sie in der Schubertschrift von Ende 1872 be-
handelt (vorher schon in: Das deutsche Lied
in seiner histor. Entwicklung 1861; später stark
umgearbeitet als Geschichte des deutschen
Liedes 1874). Es ist schwer, Reißmanns Be-
handlung Schuberts und besonders seiner
Lieder gerecht zu werden, da sie einesteils
viel damals neues Stichhaltiges oder wenigstens
Beachtenswertes brachte, andernteils aber so
von Leichtfertigkeiten und Geschmackiosig-
keiten strotzt, wie bei ihm bräuchlich. Sehr
dankenswert war, daß Reißmann sich nicht auf
die bis 1872 gedruckten Lieder beschränkte,
sondern einen großen Teil der vielen damals
noch ungedruckten durchsah, was besonders
für die frühen (bis Ende 1816) wichtig ist. Sein
Grundirrtum, veranlaßt durch seine altertümelnde
doktrinäre Vorliebe für das strenge Strophen-
lied (vgl. S. 134 II ob.), besteht darin, daß er
für die Haupt-Errungenschaft Schuberts die
feinere Ausbildung dieser Form ausgibt und
darüber dessen viel wichtigere Pflege der freieren
und größeren Gesangsformen vernachlässigt.
Da Reißmann leider noch immer die in Deutsch-
land abgeschriebenste Autorität über Schuberts
Lieder ist (auch ist bisher ja nichts Ein-
gehenderes darüber vorhanden), so habe ich
mich oft mit ihm auseinandergesetzt. Betreffs
der Periodisierung der Lieder bringt er einiges
bei, doch Unzulängliches, und seine Würdigung
der einzelnen ist sehr ungleich: neben Vor-
trefflichem findet man viele Unterschätzungen
und Auslassungen; z. B. bespricht er von den
hochwichtigen 47 Mayrhofer-Gesängen nur 8,
sie mit 18 Zeilen abspeisend (S. 66): ein Gegen-
stück zu seiner Mißhandlung der Schillerlieder.

Der verderbliche Einfluß Reißmanns zeigt
sich schon bei der Schubert-Biographie von
H. Kreissle (von Hellborn, 1812- 69) von 1865,
dem bisher umfangreichsten Werk über ihn
(619 S.); nur bei der Einzelbesprechung der
Lieder, S. 496—509, und den einzelnen Jahren
weicht er öfter ab, ohne Sonderliches zu bieten.

Dagegen gehört der Schubert-Artikel von
George Grove (1820—1900), einem der besten
Kenner und Schätzer des Meisters, in dem
von jenem herausgegebenen Dictionary of music
and musicians, Bd. 3, 319—82, 1882 (kürzlich
in neuer Ausgabe erschienen), zum in jeder
Beziehung Ausgezeichnetsten über den Meister.
Leider ist dies gediegene Musiklexikon in
Deutschland wenig verbreitet, auch kam eine
deutsche Übersetzung des Schubert-Artikels
nicht zustande, die geplant war (wohl von
Friedländer). Im Lebensbericht nennt Grove bei
den einzelnen Jahren die bedeutendsten Lieder,
öfters mit kurzer Würdigung. Dann gibt er auf

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