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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Benn, Joachim: Frankfurts Skulpturensammlung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0387
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Frankfurts Skulpturensammlung.


Abb. 5. Heilige Dorothea. Lindenholz. Augsburg? (Um 1520.)

der Form gehend, wenn auch
noch immer von einer Strenge
der Stilisierung, die der ägyp-
tischen nicht nachsteht, dabei
Ausdruck einer dämonischen
Energie der Seele und der
Phantasie sind zwei gegen-
einander springende Tiere
von einem Kalkfteinkapitäl
aus Italien (Abb. 8), daS
freilich vier Jahrhunderte
später, im zwölften, entstan-
den ist. Aus dieser Zeit
stummen auch die ersten
menschlichen Darstellungen
hier, ein Prophetenrelief, ein
Relief von Hirten der Ver-
kündigung, eine Madonna,
ein Kopf; das Bestreben,
den bekleideten Körper ähn-
lich malerisch-ornamental zu
binden wie den Tierkörper,
führt zu steifen, ungemein
primitiven Gebäuden; sodaß
man geneigt sein könnte, hier
erst eine Vorstufe eigentlicher
Kunst zu sehen. Aber die
rundplastische Madonna mit
Kind auS Lindenbolz, die in
der ersten Hälfte des ID Jahr-
hunderts in Süddeutschland
entstanden ist, ist mit der
sonderbaren Langhalsigkeit der
Köpfe und der schematischen
Haltung der mütterlichen
Hände jedenfalls schon der
Ausdruck eines ganz bestimm-
ten, ganz eigenen Stilwol-
lenS, die polychromen heiligen
drei Könige aus der gleichen
Zeit sind in ihrer ausgezeich-

der Wände bringt; der Gegenstand der gotischen Kunst ist eigentlich daS Unkörperliche, daS Geistige, das Magische,
und wenn die ägyptische Kunst der Ausdruck eines sozialen Idealismus, die griechische der Ausdruck eines indivi-
dualen Idealismus ist, so die mittelalterlich-gotische die eines panpsychischen, ja pandämonischen Idealismus, womit
sich auch ein Zusammenhang mit dem fatalistischen Naturalismus der Spätrömer zeigt.
Ein sehr schöner marmorner Vierkantpilaster mit Kapitol aus Capua zeigt, wovon die mittelalterliche Kunst
ausging; denn die vier Seitenflächen sind mit Relief-Ornamenten im sogenannten longobardischen Stil geschmückt:
In den freien Feldern zwischen den Windungen eines symmetrisch schön gelegten Bandes sind ganz schematisch
vogelartige Tiere herausgehauen; die Form ist primitiv aber von seltsam lapidarer Wucht, und das Spiel von Licht
und Schatten so satt-malerisch, daß alle Formverfeinerung ihm nur schaden könnte. Schon weit mehr inS Einzelne
neten Gruppierung trotz der
unverhältnismäßig großen
Köpfe schon wieder um Eini-
ges weiter. Und nun geht
es mit immer schnelleren
Schritten auf den Beginn
der ersten Blütezeit eigent-
lich gotischer Kunst zu: Die
beiden Verkündigungsengel
(Abb. 4) auS der Werkstatt
Giovanni PisanoS, der 1Z2O
starb, bedeuten mit der ge-
spenstischen Kraft ihrer Ge-
bärden schon eine ganz andere
Sicherheit in der Verwirk-
lichung der eigentlichen Ab-
sichten bei weit größerer
Annäherung an die Natur-
wahrheit, und ein Tuba bla-
sender Engel aus Frankreich,
der etwa aus der gleichen
Zeit stammt, darf als reifes '
Stück gelten: Streng in der
Stilisierung, ist er doch fast
elegant in der plastischen
Ausarbeitung und in seiner
halb lieblich-träumenden, halb
gewaltig-ahnungsvollen Hal-
tung, aus der gleichsam Seele
tränst, etwas ganz Neues
neben der griechisch-organi-
schen Körperkunst, Inbegriff
aller Poesie, die sich an die
christlich-gerinanische Schöp-
fung der Weihnacht knüpft.
Um I4OO tritt die go-
tische Kunst zweifellos in
ihre erste Blüteperiode, und
die Liebig - Sammlung ist
schon heute an Beispielen
aus dieser Zeit so reich, daß
man fast so etwas wie Angst vor dieser erstaunlichen Größe bekommt; an den Wänden der dieser Zeit gewidmeten
Säle entlang geht man unter einem wahren Wald von Madonnen, die auf vorgeschwungener Hüfte in lieblicher
Haltung das Kind tragen oder schmerzerftarrt den Leichnam in den Schoß zurückzwingen, von Aposteln, die das Buch
halten oder das Schwert, von frommen Frauen, die aller Leiden Möglichkeiten aus den Wehen ihrer mütterlichen
Seelen verstehen, und übertragen aus große und kleine, bemalte und unbemalte Bildwerke, die ergriffen Hände
aus Holz geschnitzt oder aus Stein gemeißelt haben, scheint deutsch-nordisches Wesen aus einen herab, wie manch-
mal aus einem engen Waldtal in den deutschen Mittelgebirgen. Die Sammlung wird auch unaufhörlich erweitert,
denn erst vor wenigen Wochen ist ein großer Alabasteraltar mit drei Kreuzigungsgruppen und den zwölf Aposteln
angekauft worden, der das Rätsel dieser seltsamen Epoche wieder ungeahnt vertieft, weil sich daran eine Monumen-

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