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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 3
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Halm, August Otto: Hektor Berlioz' "Trojaner in Karthago"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0123
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Hcltor Berlioz' „Trojaner in Karthago".

rufen Grund hätte? Dann stünde ja freilich die Gewohn-
heit auf seiner Seite. Da wir aber dieses Anwalts uns
weniger rühmen dürften als eines andern, nämlich der
Einsicht, so nannte ich Berlioz' Verfahren mit Absicht
merkwürdig. Denn es ist Einsicht in das Wesen des
Dramas aus ihm zu hvlen, es sind Lehren aus ihm zu
gewinnen, die zu merken wir gut tun, und gerade wir
des Heute, in dem sich große Wandlungen vorbereiten.

Die Handlung, als sichtbar erscheinend, gehört dem
Bildhaften, als ein bestimmter Teil desselben an;
des Eindrucks ihrer Bewegtheit bedient sich die künst-
lerische Okonomie, wie sie sich auch des unbewegten
Szenenbilds bedient. Das ruhende Bild nun bevor-
zugt Berlioz, welcher vor allem eben Szeniker ist, was
wir aus der Konzeption anderer Werke — ich nenne nur
das Requiem und die Damnation — gleich wie hier
erkennen. Beim zweiten Teil der „Trojaner" nun steht
gebietend im Gesichtskreis die Vorstellung des Pastorale:
eine der Lieblingsvorstellungen Berlioz'; die Haupt-
zentren, die Brennpunkte der musikalischen Erfindung,
liegen hier in landschaftlichen Motiven, ja, man könnte
das eigentlich innere Geschehen als eine Variationen-
reihe über das Thema: pastorale Musik betrachten.
Da ist das landschaftliche Bild am Strand, in die Wonne
einer warmen Sommernacht getaucht, „übersättigt
mit Wohlgeruch"; da ist die Szene im Wald, „Gewitter
und Sturm"; da ist endlich ein maritimes Pastorale,
das Lied des Hylas, das sich über Wellen und schwankenden
Schiffen wiegt. Daß die Abfolge der Charaktere in dieser
Reihe, dramatisch organisiert, dem Entstehen der end-

lichen stofflichen Handlung dienstbar werden und ihr
Gehalt und Gewicht verleihen soll, wie sie es an sich
nicht hätte, scheint mir mehr als wahrscheinlich; und
insofern wäre Berlioz auch in diesem Sinn Dramatiker,
daß er der Handlung, hier also der Abreise der Trojaner,
den Wert eines Vollziehens verleiht. Doch nährt sich
sein Drama nicht von der Handlung, vielmehr wirkt die
einzelne und einzige Handlung nur durch das Vorher-
gehende. Daß dieses nun aber dennoch nicht um ihret-
willen da ist und durch diese seine Funktion gleichsam
zweckvoll werdend sich rechtfertigt: das nenne ich den
Ruhm des Dramatikers Berlioz; freilich mehr noch seines
Willens als seines Vollbringens. Jch könnte mir recht
wohl eine von Erscheinung und Sein gesättigtere Musik
denken (und sogar vorstellen), als er sie da vielfach ge-
schrieben hat; ich wünschte, daß dieser Kunst weniger
das Amt des Begleitens übertragen, mehr reale Führer-
schaft anvertraut wäre. Aber die ideale Direktive des
ganzen Dramas geht von ihrer Macht aus; dessen Jnhalt
wäre ohne sie nicht möglich. Berlioz hat hier ein wirk-
liches Musikdrama geschaffen, ein Gegenteil des nur
„vertonten", des „in Musik gesetzten" Schauspiels und
Wortdramas. Und zwar einen Typus von Musikdrama,
der Aukunft in sich birgt; hoffen wir, daß diese Aukunft
erscheine.

Vielleicht steht sie unmittelbar bevor. Denn es erhellt,
daß auf diesem Boden und in solcher Luft etwas ge-
deihen und Heimatrecht erlangen kann, dem von jeher
die Liebe der Oper galt, und dem heute Aufmerksamkeit
geschenkt wird: Tanz und festlicher Ritus. A. Halm.

rzählungen an Bord.

An das Buch, das einem den an dieser Stells schon so oft
genannten Dichter Alfons Paquet zum ersten Male als epischen
Dichter zeigen soll — cs ist vor der öffentlichcn Buchausgabe*)
schon als einer der diesmaligen Iahrespreise des „Frauenbundes
zur Ehrung rheinländischer Dichter" erschienen — geht man nicht
ganz ohne Besvrgnis: Älfons ipaquet ist bekannt, und mehr als
das, bcrühmt geworden durch großrhythmische Gedichte, die,
vielfach von Landschafts- und Städteschilderungen in Form von
Reiseberichten ausgehend, sich an einer Stclle wie von einem
Aeroplan emporgerisscn stcts plötzlich in die Höhe kosmischer Gc-
sänge erhoben: dann Ausdruck einer Weltanschauung, in der sich
eine transzendcntale Grundgesinnung von christlich-puritanischem
Grundtypus, vielleicht verfeinert durch Clemente buddhistischcr
Welteinsicht, mit wahrhaft herrlicher Sieghaftigkeit die ins Ün-
geheure erweitertc Weltmasse untcrwarf, wie sie modernes Clemen-
tarstreben forschend neu zutage gefördert hatte. Jnsofern diese
Gedichte von Rciseberichten ausgingcn, waren sie wohl nicht ganz
ohne epische Clemente, aber sie ermangelten doch dcr epischen
Dur6)führung ciner klar angelegten Hqndlung, die das eig«ntlick)e
Wesen der Epik ausmacht. Alfons Paquet hat dann prosaische
Reiseberichte veröffentlicht, die, großartig in ihrer Schilderungs-
kraft, doch die epischen Elemente der Gedichte nur ins Breite
entwickelten, nicht ausgestalteten, selbst wo sie das versuchten;
denn auch dcr sogenannte Roman „Konrad Fleming" war ja nur
«in Reisebericht, der flüchtig mit einer dichterischen Handlung
durchseht waü Paquets Drama „Limo, der getrcue Diener"
schließlich enthielt wohl zum ersten Male eine durchgeführte Hand-
lung, aber eine, deren Umsetzung ins Epische problematisch schien.

Der erste Blick in das neue Buch scheint auch manche Be-
fürchtungen zu bestätigen: Es beginnt als eine reine Augenblicks-
schilderung von einer Reise; schon auf der vierten Seite beginnt
die Jch-Crzählung, die doch lyrischem Erguß näher steht als epischer
Kunst, und man stellt leicht fest, daß für den größeren Teil des

* Rütten L Loening, Frankfurt a. M.

Buches diese Form die herrschende bleibt. Allein die eigentliche
Reiseschilderung bricht sehr bald ab und erweist sich nur als
Rahmenerzählung für eine Reihe kleiner selbständiger Erzählungs-
stücke; auch die bringen wohl wieder vielfach ziemiich direkte Tat-
fachenschildcrung und handeln zum Teil ebenfalls von Reisen,
aber sie sind doch durchaus in sich geschlossene Gebilde von epischer
Rundung: Nicht Novellen sondern Skizzen, machen sie aus cin-
zelnen Vorgängen des täglichen realen Lebens Symbole dcr
allgemeinen menschlichen Existenz; dabei zeigen sie, daß der Titel
„Erzählungen an Bord", dcr ihncn bcsonders vorgeschrieben ist,
nicht nur den Schiffsbord meint, an dem die Geschichten tatsächlich
erzählt werden, sondcrn der Bord des menschlichen Lebcns über-
haupt ist. Es ist ganz merkwürdig, wie es dem Dichter gelungcn
ist, in diesen kurzen Prosaskizzen, die in seine Frühzeit zurück-
gehen, im Grunde genommen genau dasselbe auszudrücken wic
in seinen großen kosmischen Gedichten, und am tiefsten und
schönsten ist menschliche Lebenswallfahrt an Liebe, Zärtlichkeit,
Cinsamkeit, Grauen und Todesnot vorbei Bild geworden in der
Geschichte „Wir erwarten das Vlissinger Boot", einem Stück
klassischer literarischer Kleinkunst.

Wenn die nächstfolgenden selbständigcn Erzählungen kom-
pliziertere Themen, die zumeist das Verhältnis von Moral zu
Jnstinktleben illustrieren, wohl in breiterer aber doch in gleich
direkt-realisiischer, anekdotenhafter Form zu bchandeln suchen, so
kann das nicht alZ'gelungen gelten: Das symbolifche Grunderlebnis
wird durch die größere Zahl realistischer Einzelheiten nur ge-
schwächt; der größere Umfang verlangte eine Ausbildung mehr
in die Tiefe, statt in die Breite. Was da entsteht, bleibt um der
zu großen Zahl von Cinzelheiten willen zu sehr Einzelfall, zu
ungeformt, zu naturalistisch für das ganz Geistige, was gcwollt
ist. Äuch die große Geschichte von der „Schwester Mathild" ist
nicht gelungen: Cs ist eine Jch-Crzählung und zugleich eine Reise-
erzählung, nur kommt der Reisende nicht an landschaftliche, sondern
an seelische Merkwürdigkeiten, wird Zeuge einer Verbindung, die
sicb zwifchen zwei Unbekannten rein durch die Vermittlung eines
geliebten Dritten knüpft. Das ist ein großes Thema, und viel-
 
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