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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn (1): Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn — Wien: Österreich. Staatsdruckerei, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.75259#0101
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SCULPTUR.

dieses Hochrelief kann auch kaum der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts angehören. Die
Lust, mit welcher die Gliedmaßen der Figuren frei bewegt erscheinen, das Streben nach
Abwechslung in den Wendungen, nach Wiedergabe des psychischen Ausdruckes in den Mienen
der Gefangenen f, das sind alles Dinge, denen die Kunst seit dem dritten Jahrhunderte geradezu
absichtlich aus dem Wege gegangen ist. An Stelle des Eingesunkenseins im Raume ein taktisches
Herausspringen aus dem Grunde, das geradezu einen (für hadrianische Zeit nicht überraschenden)
Rückfall in den Hellenismus bedeutet; anstatt der entschiedenen Vorherrschaft der Verticalen
und Horizontalen zahlreiche rhythmisch verbindende Diagonalen; selbst die Politur des Porphyrs
erzeugt hier nicht das unruhige Flimmern wie am Constantina-Sarkophag. Und hat sich niemand
gefragt, was denn auf einem Sarkophage der heiligen Helena die Kriegsscenen zu bedeuten
hätten; wer denn der auf der Langseite voraussprengende Feldherr ist, auf den der hockende
Krieger darunter bedeutungsvoll hinweist, und dessen Pferd in auszeichnender Weise von einem
Knechte am Zaume geführt wird? Da es offenbar nicht" Constantin ist, der hier dargestellt
erscheint, so bleibt kaum anderes übrig, als den eigentlichen ursprünglichen Destinataire des
Sarkophages darin zu vermuthen. Sein bärtiger Kopf legt allein schon nahe, ihn in der Zeit
zwischen Hadrian und Diocletian zu suchen; im übrigen spricht alles eher für den Anfang als für
das Ende dieser Periode. Das einzige Denkmal, das sich hinsichtlich der Composition zur Seite
stellen lässt, ist die Basis des Antoninus und der Faustina im Giardino della Pigna des Vaticans.
Die Anwendung des Porphyrs ist nicht unerhört in dieser Zeit; aus der Villa Hadrians
wissen wir, in welchem Umfange man damals bereits von färbigen harten Steinsorten Gebrauch
gemacht hat. Dazu gesellt sich als höchst bedeutsamer Umstand, dass die Pupillen an keiner
Figur graviert sind, wie dies an zeitgenössischen (nicht mythologischen) Figuren seit Marc Aurel
nahezu ausnahmslos der Fall gewesen ist. Nur die Pferde haben in ihren verhältnismäßig
großen Augäpfeln ein Bohrloch erhalten, und dies ruft uns die Beobachtung ins Gedächtnis, dass
die Gravierung der Pupille im zweiten nachchristlichen Jahrhunderte zu allererst an Colossal-
büsten (Antoninus Pius im Capitolinischen Museum) und an lebensgroßen Porträtköpfen; das heißt
an besonders groß gestalteten Augen entgegentritt, an denen die optische Leblosigkeit des
glatten Augapfels naturgemäß am störendsten (weil am wenigstens durch die Lider maskiert)
auffallen musste. Nach alledem werden wir in dem Helena-Sarkophag eine Arbeit etwa aus der
Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zu erkennen haben, der in den Dreißigerjahren
des vierten Jahrhunderts dazu bestimmt wurde, die Reste der Mutter Constantins des Großen
aufzunehmen. Wie ein im vierten Jahrhunderte gearbeiteter Porphyrsarkophag ausgesehen haben
muss, lehrt uns eben der vorhin betrachtete der Constantina, der offenbar, seine äußere Gestalt
nach dem für die Großmutter benützten Vorbilde erhalten hat, dazu aber freilich einen Relief-
schmuck, der von jenem verschiedener nicht gedacht werden kann. 2
Ein Punkt bleibt hiebei noch aufzuklären: wie konnte das vierte Jahrhundert von Kunst-
werken Gebrauch machen, die einem von seinem eigenen so verschiedenen Kunstwollen
entsprungen waren? Liegt darin nicht ein Widerspruch gegen die dieser ganzen Untersuchung

1 Man beachte zum Beispiel, wie von den vier schreitenden Gefangenen der Schmalseite der hinterste sich noch aufrecht hält und
zuversichtlich nach der Heimat, aus der er in die Sklaverei hinweggeführt wird, zurückblickt, die folgenden Gestalten in stufenweiser
Steigerung das düstere Zukunftslos immer deutlicher ahnen, der vorderste endlich in voller Hoffnungslosigkeit vorgebeugt das Haupt
niedersenkt.

2 Diese meine Anschauungen über die Entstehungszeit des Helena-Sarkophags habe ich zum erstenmale im Juni 1899 in einer
Sitzung des Eranos Vindobonensis vor einem größeren Publicum geäußert, nicht ohne damals von Seite eines Vertreters der classischen

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