SCULPTUR.
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Erbauungsinhaltes dazu bedurfte. Daraus erklärt sich
auch, dass in den ersten Jahrhunderten des Mittel-
alters überall dort, wo man nach wirklich künstle-
rischer Durchführung einer Bildaufgabe verlangte, die
oströmische Kunst nach unseren modernen An-
schauungen die leistungsfähigere gewesen ist, und
dass gerade die figurenbildenden Kunstzweige, zum
Beispiel das Mosaik, sicher vom sechsten, vielleicht
schon vom fünften Jahrhundert ab, so ganz und gar
in die Hände der oströmischen Künstler übergegangen
sind. Dieses Abhängigkeitsverhältnis währte so lange,
als man sich im Westen nicht entschließen konnte, die
Beobachtung der Verbindungen zwischen den Einzel-
formen in der bildenden Kunst zu retablieren. Als dies
endlich erfolgte (im Norden seit Karl dem Großen,
im Süden seit der Mitte des elften Jahrhunderts), da
geschah es bereits auf Grund einer veränderten Auf-
fassung (vom Raume als dem Prius gegenüber der
Einzelform), die der Kunst eine unabsehbare neue
Zukunft eröffnete.
Die byzantinische Kunst, die an der antiken Auf-
fassung von der abgeschlossenen Einzelform als dem
Ziele aller Bildkunst nach wie vor festhielt, hat sich
damit selbst von jener Zukunft ausgeschlossen, und
daher von der zweiten Hälfte des Mittelalters an
jede Bedeutung für den Fortschritt der abendlän-
dischen Kunstentwicklung verloren.
Als ein Beispiel der rein centralistischen Com-
position bei den Oströmern werden wir das Relief
des Rinaldus-Sarkophags (Fig. ty ansehen dürfen.
Fig. 42. Diptychon-Tafel; Elfenbein. Königl. Museen
in Berlin.
Wie sich die oströmische Verquickung des Centralbaues mit dem basilikalen Langbau in der
Reliefcomposition geäußert hat, mag uns eine Tafel von einem Berliner Diptychon (Fig. 42)
veranschaulichen. Die en face thronende Madonna mit dem Kinde auf dem Schoße nimmt genau
die Mitte der Bildfläche ein und bildet daher unzweifelhaft das beherrschende Centrum der Com-
position, nacli welchem auch die Köpfe der Engel und der Halbfiguren von Sonne und Mond
convergieren; aucli sonst ist bis auf geringfügige Ausnahmen eine peinliche Symmetrie zur Mittel-
axe im Bilde durchgeführt. Daneben herrscht nun das sichtliche Bestreben, möglichst viel Raum-
relationen, das heißt Deckungen hintereinander zu häufen, wobei die hinterste Figur (in den
Zwickeln) genau die gleiche Reliefhöhe einhält als die vorderste (das Kind). Darin gelangt das
typische Verhältnis der spätrömischen Kunst zum Raume zum Ausdruck: die Räumlichkeit der
Figuren wird durch die gehäuften Deckungen geflissentlich betont, aber die künstlerische Einheit
wesentlicli nocli immer in der Liniencomposition gesucht, das heißt die verbindenden Lufträume
zwischen den Einzelformen (Figuren) grundsätzlich unberücksichtigt gelassen. Gleich Kartenblättern
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Erbauungsinhaltes dazu bedurfte. Daraus erklärt sich
auch, dass in den ersten Jahrhunderten des Mittel-
alters überall dort, wo man nach wirklich künstle-
rischer Durchführung einer Bildaufgabe verlangte, die
oströmische Kunst nach unseren modernen An-
schauungen die leistungsfähigere gewesen ist, und
dass gerade die figurenbildenden Kunstzweige, zum
Beispiel das Mosaik, sicher vom sechsten, vielleicht
schon vom fünften Jahrhundert ab, so ganz und gar
in die Hände der oströmischen Künstler übergegangen
sind. Dieses Abhängigkeitsverhältnis währte so lange,
als man sich im Westen nicht entschließen konnte, die
Beobachtung der Verbindungen zwischen den Einzel-
formen in der bildenden Kunst zu retablieren. Als dies
endlich erfolgte (im Norden seit Karl dem Großen,
im Süden seit der Mitte des elften Jahrhunderts), da
geschah es bereits auf Grund einer veränderten Auf-
fassung (vom Raume als dem Prius gegenüber der
Einzelform), die der Kunst eine unabsehbare neue
Zukunft eröffnete.
Die byzantinische Kunst, die an der antiken Auf-
fassung von der abgeschlossenen Einzelform als dem
Ziele aller Bildkunst nach wie vor festhielt, hat sich
damit selbst von jener Zukunft ausgeschlossen, und
daher von der zweiten Hälfte des Mittelalters an
jede Bedeutung für den Fortschritt der abendlän-
dischen Kunstentwicklung verloren.
Als ein Beispiel der rein centralistischen Com-
position bei den Oströmern werden wir das Relief
des Rinaldus-Sarkophags (Fig. ty ansehen dürfen.
Fig. 42. Diptychon-Tafel; Elfenbein. Königl. Museen
in Berlin.
Wie sich die oströmische Verquickung des Centralbaues mit dem basilikalen Langbau in der
Reliefcomposition geäußert hat, mag uns eine Tafel von einem Berliner Diptychon (Fig. 42)
veranschaulichen. Die en face thronende Madonna mit dem Kinde auf dem Schoße nimmt genau
die Mitte der Bildfläche ein und bildet daher unzweifelhaft das beherrschende Centrum der Com-
position, nacli welchem auch die Köpfe der Engel und der Halbfiguren von Sonne und Mond
convergieren; aucli sonst ist bis auf geringfügige Ausnahmen eine peinliche Symmetrie zur Mittel-
axe im Bilde durchgeführt. Daneben herrscht nun das sichtliche Bestreben, möglichst viel Raum-
relationen, das heißt Deckungen hintereinander zu häufen, wobei die hinterste Figur (in den
Zwickeln) genau die gleiche Reliefhöhe einhält als die vorderste (das Kind). Darin gelangt das
typische Verhältnis der spätrömischen Kunst zum Raume zum Ausdruck: die Räumlichkeit der
Figuren wird durch die gehäuften Deckungen geflissentlich betont, aber die künstlerische Einheit
wesentlicli nocli immer in der Liniencomposition gesucht, das heißt die verbindenden Lufträume
zwischen den Einzelformen (Figuren) grundsätzlich unberücksichtigt gelassen. Gleich Kartenblättern
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