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IV. Die älteflen Antwerpen’fchen Maler. Quinten Massijs.
welche fich am Fufse der Felswand des Golgatha entfaltet. Hier liegt der
nackte Chriftus, mit erftarrten Beinen ausgeftreckt und mit bogenförmig em-
porgehobenem Oberleib auf einem Leichentuch. Das Leiden hat den Körper
abgezehrt; die Rippen durchfurchen wellenförmig die Bruft, der Unterleib ift
eingefunken, auf der pergamentartigen Haut von Armen nnd Beinen zeichnen
fich die blutlofen Adern, der fchöne Kopf ift fleifchlos. Hinter ihm find neun
lebensgrofse Figuren verfammelt, vier Männer an der Kopffeite, fünf Frauen
an den Beinen und am Fufsende. Alle find Freunde Chrilti, alle gekommen
um den leiblichen Ueberreften des Gottmenfchen, den fie nicht vom Tode hatten
erretten können, einen letzten traurigen Liebesdienft zu erweifen. Sie fchicken
fich zur Beftattung an. Rechts fieht man bereits eine regelmäfsige Grotte in den
Felfen gehauen, wo ein Mann und eine Frau bei dem Licht einer Kerze die
Grabftätte in Bereitfchaft fetzen. Der erfte der um Chriftus gedrängten Männer
ift eine bejahrte und vornehme Perfon; er hält den Kopf der Leiche und mit
dem Oberkörper darüber gebeugt macht er die Haare von dem geronnenen
Blute frei; auf feinem Antlitz ift tiefe Niedergefchlagenheit zu lefen. Neben
ihm kniet ein anderer anfehnlicher Mann mit langem Bart, der die Leiche unter
den Armen ftützt und ruhigen doch gefühlvollen Auges auf die traurige Scene
blickt. Der dritte fleht aufrecht, die Dornenkrone in der Hand haltend und
mit fchwer zu errathendem Ausdruck nach dem Befchauer herausblickend. Dann
folgt Johannes, der Maria ftützt, welche um den Tod ihres Sohnes wehklagend
zufammenzubrechen droht. Hierauf kommen drei junge Frauen, im Begriffe die
Leiche zu falben. Die erfte nimmt einen mit Balfam getränkten Schwamm
aus einer koftbaren goldenen Vafe, eine zweite, die Chrifti Hand hält, will eben
den Schwamm nehmen, die dritte falbt Chrifti Fiifse. Hinter ihr fteht in jam-
mernder Haltung eine bejahrte Frau.
Die ganze Compofition ift einfach, und ebenfo glücklich als einfach.
Chrifti Leiche foll hier die Hauptfache fein, und ift fie auch, Alle follen rings-
um zu demfelben Liebeswerk vereinigt fein, und find es auch. Es ift gewifs
etwas zu Schlichtes in der Anordnung, wonach Chriftus in feiner vollen Länge
im Vordergründe ausgeftreckt liegt und feine Freunde hinter ihm in zwei Linien
gereiht find, die eine aus den Knienden oder Vorgebeugten beftehend, in halber
Mannesgröfse, die andere von den Aufrechtftehenden gebildet in ganzer; aber
diefe Schlichtheit kennzeichnet den Künftler und feine Zeit, übrigens hier, ver-
glichen mit der mathematifchen Regelmäfsigkeit, wie fie in den grofsen Werken
von van Eyck, Memlinc, ja felbft in der St. Annenlegende von Maffijs herrfcht,
bereits einen Uebergang zu der freieren Bewegung der fpäteren Zeit bildend.
Liebevolle Beforgtheit und tiefgefühlte Trauer ift klar und ungekünftelt
und zu gleicher Zeit manigfaltig in Haltung, Geberde und Mienen von Allen
ausgedrückt. Die zwei würdigen Männer zur Linken find treffend charakterifirt.
Der erfte ift alt: ihm geht der Tod zu Herzen, doppelt die ihm verfallene
Jugend. Im ruhigen Nachdenken des zweiten liegt mehr Beherrfchung feiner
Empfindungen, wie man diefs auch von feiner kräftigen Geftalt erwarten darf.
Das Leid des hl. Johannes ift getheilt zwifchen Chriftus und Maria: fein An-
geficht ift dem Sohne zugewandt, feine Arme ftützen die Mutter. Er bricht
nicht in Thränen aus, um den Schmerz der in Ohnmacht Sinkenden nicht zu
erhöhen, aber man fieht, wie fein Mund und fein ganzes Geficht von zurück-
gehaltenem Schluchzen zufammengezogen wird und wie die Betriibnifs ihm die
Kehle zufchniirt. Und unter all den gefühlvollen Figuren, welche das Bild
füllen, ift diefe wohl nöch die meifterhaftefte. Die drei jfingern Frauen weinen;
jene welche die Hand der Leiche hält und minder als die beiden andern mit
dem Salben befchäftigt ift, macht ihrer Trauer lauter, jede der beiden anderen
IV. Die älteflen Antwerpen’fchen Maler. Quinten Massijs.
welche fich am Fufse der Felswand des Golgatha entfaltet. Hier liegt der
nackte Chriftus, mit erftarrten Beinen ausgeftreckt und mit bogenförmig em-
porgehobenem Oberleib auf einem Leichentuch. Das Leiden hat den Körper
abgezehrt; die Rippen durchfurchen wellenförmig die Bruft, der Unterleib ift
eingefunken, auf der pergamentartigen Haut von Armen nnd Beinen zeichnen
fich die blutlofen Adern, der fchöne Kopf ift fleifchlos. Hinter ihm find neun
lebensgrofse Figuren verfammelt, vier Männer an der Kopffeite, fünf Frauen
an den Beinen und am Fufsende. Alle find Freunde Chrilti, alle gekommen
um den leiblichen Ueberreften des Gottmenfchen, den fie nicht vom Tode hatten
erretten können, einen letzten traurigen Liebesdienft zu erweifen. Sie fchicken
fich zur Beftattung an. Rechts fieht man bereits eine regelmäfsige Grotte in den
Felfen gehauen, wo ein Mann und eine Frau bei dem Licht einer Kerze die
Grabftätte in Bereitfchaft fetzen. Der erfte der um Chriftus gedrängten Männer
ift eine bejahrte und vornehme Perfon; er hält den Kopf der Leiche und mit
dem Oberkörper darüber gebeugt macht er die Haare von dem geronnenen
Blute frei; auf feinem Antlitz ift tiefe Niedergefchlagenheit zu lefen. Neben
ihm kniet ein anderer anfehnlicher Mann mit langem Bart, der die Leiche unter
den Armen ftützt und ruhigen doch gefühlvollen Auges auf die traurige Scene
blickt. Der dritte fleht aufrecht, die Dornenkrone in der Hand haltend und
mit fchwer zu errathendem Ausdruck nach dem Befchauer herausblickend. Dann
folgt Johannes, der Maria ftützt, welche um den Tod ihres Sohnes wehklagend
zufammenzubrechen droht. Hierauf kommen drei junge Frauen, im Begriffe die
Leiche zu falben. Die erfte nimmt einen mit Balfam getränkten Schwamm
aus einer koftbaren goldenen Vafe, eine zweite, die Chrifti Hand hält, will eben
den Schwamm nehmen, die dritte falbt Chrifti Fiifse. Hinter ihr fteht in jam-
mernder Haltung eine bejahrte Frau.
Die ganze Compofition ift einfach, und ebenfo glücklich als einfach.
Chrifti Leiche foll hier die Hauptfache fein, und ift fie auch, Alle follen rings-
um zu demfelben Liebeswerk vereinigt fein, und find es auch. Es ift gewifs
etwas zu Schlichtes in der Anordnung, wonach Chriftus in feiner vollen Länge
im Vordergründe ausgeftreckt liegt und feine Freunde hinter ihm in zwei Linien
gereiht find, die eine aus den Knienden oder Vorgebeugten beftehend, in halber
Mannesgröfse, die andere von den Aufrechtftehenden gebildet in ganzer; aber
diefe Schlichtheit kennzeichnet den Künftler und feine Zeit, übrigens hier, ver-
glichen mit der mathematifchen Regelmäfsigkeit, wie fie in den grofsen Werken
von van Eyck, Memlinc, ja felbft in der St. Annenlegende von Maffijs herrfcht,
bereits einen Uebergang zu der freieren Bewegung der fpäteren Zeit bildend.
Liebevolle Beforgtheit und tiefgefühlte Trauer ift klar und ungekünftelt
und zu gleicher Zeit manigfaltig in Haltung, Geberde und Mienen von Allen
ausgedrückt. Die zwei würdigen Männer zur Linken find treffend charakterifirt.
Der erfte ift alt: ihm geht der Tod zu Herzen, doppelt die ihm verfallene
Jugend. Im ruhigen Nachdenken des zweiten liegt mehr Beherrfchung feiner
Empfindungen, wie man diefs auch von feiner kräftigen Geftalt erwarten darf.
Das Leid des hl. Johannes ift getheilt zwifchen Chriftus und Maria: fein An-
geficht ift dem Sohne zugewandt, feine Arme ftützen die Mutter. Er bricht
nicht in Thränen aus, um den Schmerz der in Ohnmacht Sinkenden nicht zu
erhöhen, aber man fieht, wie fein Mund und fein ganzes Geficht von zurück-
gehaltenem Schluchzen zufammengezogen wird und wie die Betriibnifs ihm die
Kehle zufchniirt. Und unter all den gefühlvollen Figuren, welche das Bild
füllen, ift diefe wohl nöch die meifterhaftefte. Die drei jfingern Frauen weinen;
jene welche die Hand der Leiche hält und minder als die beiden andern mit
dem Salben befchäftigt ift, macht ihrer Trauer lauter, jede der beiden anderen