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Leben und Nachleben
Marientodes und der Berliner Geburt Christi in dem vor dem Portinarialtar gelegenen
Schaffen des Hugo van der Goes Platz zu finden. Die Aufgabe, das Oeuvre des Hugo
van der Goes in einer verständlichen, aber auch richtigen zeitlichen Abfolge zu ord-
nen, ist noch viel komplizierter geworden als man dachte. Wir müssen in unserer Be-
mühung, in den Sinn und die Zielsetzung seines Schaffens einzudringen, fast wieder
von vorne anfangen.«112
Die Forschung reagierte auf Pächts »radikale Revision der Goeschronolo-
gie«113 gespalten: Während die einen die Bedeutung der Typenmorphologie
zumindest für die Datierung der Werke des Malers gering achteten und daher
an der traditionellen Stilentwicklung mit Hirtenanbetung und Marientod als
den spätesten Werken des Malers festhielten114, gingen die anderen im An-
schluß an Pächt von einer Frühdatierung um 1470 für Hirtenanbetung und
Marientod aus, ohne dabei allerdings eine neue stilistische »Entwicklungskon-
struktion«115 für das Gesamtwerk vorzuschlagen116. Zwei wichtige Beiträge
sollten noch von »traditionalistischer« Seite beigesteuert werden. C. Thomp-
son und L. Campbell (1974)117 beobachteten stilistische Unterschiede zwi-
schen der Mitteltafel und den Flügeln des Portinarialtars. Auf dieser Grund-
lage versuchten sie eine feiner gegliederte Zeitabfolge der Werke vom Floren-
tiner Triptychon bis zu Hirtenanbetung und Marientod zu rekonstruieren:
»The line of Hugo's stylistic development becomes easier to follow when we separate
the Portinari Nativity from the two wings. There are clear indications from the con-
cept of space and reality revealed in the Portinari Nativity, and from the technical pro-
cedure with which it was executed, that it came after the Monforte altarpiece and
before the Trinity panels (in Edinburgh; JS]. If one side of the Trinity panels
themselves were painted before the other, it is easier to believe that the figures of the
112 A.a.O., S. 58.
113 A.a.O.
114 In diesem Zusammenhang sind u.a. zu nennen: Schoute (1972), S. 59-66; Bruyn (1975),
S. 124-126; Domscheit (1976), S. 5-7; Picture Gallery Berlin. Catalogue of Paintings, 13th-18th
Century (Berlin 1978), S. 182-185; Koslow (1979), S. 27-50; Snyder (1985), S. 169-176.
115 Pächt (1969), S. 58~s: »Es ist nicht nur aus Mangel an verfügbarem Raum, daß ich hier die Diskus-
sion abbreche. Ich hielte es für grundfalsch, wollte man, um aus dem Engpaß der gegenwärtigen
Forschungslage herauszukommen, sofort mit einer neuen Entwicklungskonstruktion auf den
Plan treten, die allen an sie zu stellenden Forderungen zu genügen hätte, d. h. die das Geschehen
in allen seinen Aspekten zwanglos zu erklären vermöchte. Echte Lösungen lassen sich nicht aus-
denken; sie müssen aus neuen Einsichten organisch hervorwachsen.«
116 So zuletzt u.a. Vos (1979), S. 210-213; Flämische Malerei von Jan van Eyck bis Pieter Bruegel
d. Ä. (Wien 1981), S. 189-192; Dirk de Vos, Groeningemuseum Brügge. De volledige Verzameling,
o. O. (Brügge), 1984, S. 21.
Sterling (1973), S. 4-19, hier S. 1428, hielt Pächts Argumente für eine Umdatierung des Brügger
Marientodes prinzipiell für überzeugend, wollte aber eine Entstehung erst in der ersten Hälfte
der 1470er Jahre annehmen. Eine Einbeziehung des Kupferstichs in die Diskussion lehnte er mit
dem Hinweis ab, daß der genaue Zeitpunkt unbekannt sei, zu dem Schongauer mit der Herstel-
lung von Kupferstichen begann.
117 Thompson, Campbell (1974), S. 65-68, S. 931, 99-106.
Leben und Nachleben
Marientodes und der Berliner Geburt Christi in dem vor dem Portinarialtar gelegenen
Schaffen des Hugo van der Goes Platz zu finden. Die Aufgabe, das Oeuvre des Hugo
van der Goes in einer verständlichen, aber auch richtigen zeitlichen Abfolge zu ord-
nen, ist noch viel komplizierter geworden als man dachte. Wir müssen in unserer Be-
mühung, in den Sinn und die Zielsetzung seines Schaffens einzudringen, fast wieder
von vorne anfangen.«112
Die Forschung reagierte auf Pächts »radikale Revision der Goeschronolo-
gie«113 gespalten: Während die einen die Bedeutung der Typenmorphologie
zumindest für die Datierung der Werke des Malers gering achteten und daher
an der traditionellen Stilentwicklung mit Hirtenanbetung und Marientod als
den spätesten Werken des Malers festhielten114, gingen die anderen im An-
schluß an Pächt von einer Frühdatierung um 1470 für Hirtenanbetung und
Marientod aus, ohne dabei allerdings eine neue stilistische »Entwicklungskon-
struktion«115 für das Gesamtwerk vorzuschlagen116. Zwei wichtige Beiträge
sollten noch von »traditionalistischer« Seite beigesteuert werden. C. Thomp-
son und L. Campbell (1974)117 beobachteten stilistische Unterschiede zwi-
schen der Mitteltafel und den Flügeln des Portinarialtars. Auf dieser Grund-
lage versuchten sie eine feiner gegliederte Zeitabfolge der Werke vom Floren-
tiner Triptychon bis zu Hirtenanbetung und Marientod zu rekonstruieren:
»The line of Hugo's stylistic development becomes easier to follow when we separate
the Portinari Nativity from the two wings. There are clear indications from the con-
cept of space and reality revealed in the Portinari Nativity, and from the technical pro-
cedure with which it was executed, that it came after the Monforte altarpiece and
before the Trinity panels (in Edinburgh; JS]. If one side of the Trinity panels
themselves were painted before the other, it is easier to believe that the figures of the
112 A.a.O., S. 58.
113 A.a.O.
114 In diesem Zusammenhang sind u.a. zu nennen: Schoute (1972), S. 59-66; Bruyn (1975),
S. 124-126; Domscheit (1976), S. 5-7; Picture Gallery Berlin. Catalogue of Paintings, 13th-18th
Century (Berlin 1978), S. 182-185; Koslow (1979), S. 27-50; Snyder (1985), S. 169-176.
115 Pächt (1969), S. 58~s: »Es ist nicht nur aus Mangel an verfügbarem Raum, daß ich hier die Diskus-
sion abbreche. Ich hielte es für grundfalsch, wollte man, um aus dem Engpaß der gegenwärtigen
Forschungslage herauszukommen, sofort mit einer neuen Entwicklungskonstruktion auf den
Plan treten, die allen an sie zu stellenden Forderungen zu genügen hätte, d. h. die das Geschehen
in allen seinen Aspekten zwanglos zu erklären vermöchte. Echte Lösungen lassen sich nicht aus-
denken; sie müssen aus neuen Einsichten organisch hervorwachsen.«
116 So zuletzt u.a. Vos (1979), S. 210-213; Flämische Malerei von Jan van Eyck bis Pieter Bruegel
d. Ä. (Wien 1981), S. 189-192; Dirk de Vos, Groeningemuseum Brügge. De volledige Verzameling,
o. O. (Brügge), 1984, S. 21.
Sterling (1973), S. 4-19, hier S. 1428, hielt Pächts Argumente für eine Umdatierung des Brügger
Marientodes prinzipiell für überzeugend, wollte aber eine Entstehung erst in der ersten Hälfte
der 1470er Jahre annehmen. Eine Einbeziehung des Kupferstichs in die Diskussion lehnte er mit
dem Hinweis ab, daß der genaue Zeitpunkt unbekannt sei, zu dem Schongauer mit der Herstel-
lung von Kupferstichen begann.
117 Thompson, Campbell (1974), S. 65-68, S. 931, 99-106.