Stil und Chronologie der Werke
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innerhalb der altniederländischen Malerei keine Parallele fand, ließen sich die
frühen Werke und die der »ultima mamera« mit ovalgeformten, weichen Ge-
sichtstypen nicht nur deutlich an Rogiersche Mariendarstellungen anschlie-
ßen, sie ähnelten sich auch in auffälliger Weise:
»Innerhalb des Goesschen Oeuvres gibt es ein verblüffend genaues Gegenstück zum
Berliner Marienkopf [dem der zur »ultima maniera« zählenden Hirtenanbetung; JS],
den der Eva des Wiener Sündenfalles... Würde Maria, die zweite Eva, die nieder-
geschlagenen Augen heben, sie wäre von der ersten nicht zu unterscheiden.«107
Dies führte Pacht zur Frage nach der Begründung der Spätdatierung von Hir-
tenanbetung und Marientod. Aus seiner Sicht hatte es für die Goes-Forschung
zwei Beweggründe gegeben -
»... erstens die Schwierigkeit, für die beiden ebengenannten Bilder einen Platz in einer
Entwicklungsabfolge zu finden, die in dem Portinarialtar und den Edinburgher Flü-
geln gipfelt, beziehungsweise zu deren Stil hinführt; und zweitens die Uberzeugung,
die in Goes' letzten Lebensjahren zum Ausbruch gekommene Geisteskrankheit könne,
ja müsse zur Erklärung der abnormalen oder irrationalen Züge des Brügger Marien-
todes wie des ihm verwandten Berliner Bildes herangezogen werden. Es gilt als aus-
gemacht, daß das wirre Gedränge und >ziellose Aktionsbedürfnis< der Apostel am Ster-
bebett der Madonna, der Ausdruck der tiefen Trauer und des Schmerzes - >der über
die Grenze des Tragbaren dumpfen Irrsinn erweckt< (Friedländer) -, den inneren Zu-
stand des Malers am Rande des Wahnsinns in einer Art tragischen Selbstbekenntnisses
widerspiegeln.«108
Angesichts der einander widersprechenden Aussagen von Typenmorphologie
einerseits und traditioneller Forschungsmeinung andererseits bemühte sich
Pacht um das Beibringen eines externen Datierungsanhaltes für die Werke der
»ultima maniera«. In Martin Schongauers Kupferstich des Marientodes (Abb.
88)109 glaubte er ihn gefunden zu haben. Auf Grund der engen Verwandt-
schaft dieses in die frühen 1470er Jahre datierten Stiches mit dem Brügger
Marientod billigte Pächt, »... angesichts jeder historischen Erfahrung .. .«110,
die Priorität Hugos Tafelbild zu. Der Brügger Marientod als Insprirations-
quelle Schongauers mußte demnach schon um 1470111 existiert haben.
»Ich glaube, die angeführten Fakten zwingen uns, die Goeschronologie einer radikalen
Revision zu unterziehen. Es erscheint jetzt überflüssig, anzunehmen, daß Goes am
Ende seines Lebens die Figurentypen seiner Bildwelt wieder normalisiert < hat. Statt-
dessen heißt es nunmehr, für die zeitlich obdachlos gewordenen Bilder des Brügger
107 A.a.O., S. 53.
108 A.a.O., S. 47.
109 Bartsch (1808), S. 134f, B. 33; Bernhard (1980), Abb. S. 55.
110 Pächt (1969), S. 57.
111 A.a.O., S. 58. Da Schongauer sich schon 1471 auf Dauer in Colmar niederließ, konnte er nach
Pächts Meinung den Marientod Goes' nur während seiner Wanderschaft in Burgund und den Nie-
derlanden 1469/70 gesehen haben.
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innerhalb der altniederländischen Malerei keine Parallele fand, ließen sich die
frühen Werke und die der »ultima mamera« mit ovalgeformten, weichen Ge-
sichtstypen nicht nur deutlich an Rogiersche Mariendarstellungen anschlie-
ßen, sie ähnelten sich auch in auffälliger Weise:
»Innerhalb des Goesschen Oeuvres gibt es ein verblüffend genaues Gegenstück zum
Berliner Marienkopf [dem der zur »ultima maniera« zählenden Hirtenanbetung; JS],
den der Eva des Wiener Sündenfalles... Würde Maria, die zweite Eva, die nieder-
geschlagenen Augen heben, sie wäre von der ersten nicht zu unterscheiden.«107
Dies führte Pacht zur Frage nach der Begründung der Spätdatierung von Hir-
tenanbetung und Marientod. Aus seiner Sicht hatte es für die Goes-Forschung
zwei Beweggründe gegeben -
»... erstens die Schwierigkeit, für die beiden ebengenannten Bilder einen Platz in einer
Entwicklungsabfolge zu finden, die in dem Portinarialtar und den Edinburgher Flü-
geln gipfelt, beziehungsweise zu deren Stil hinführt; und zweitens die Uberzeugung,
die in Goes' letzten Lebensjahren zum Ausbruch gekommene Geisteskrankheit könne,
ja müsse zur Erklärung der abnormalen oder irrationalen Züge des Brügger Marien-
todes wie des ihm verwandten Berliner Bildes herangezogen werden. Es gilt als aus-
gemacht, daß das wirre Gedränge und >ziellose Aktionsbedürfnis< der Apostel am Ster-
bebett der Madonna, der Ausdruck der tiefen Trauer und des Schmerzes - >der über
die Grenze des Tragbaren dumpfen Irrsinn erweckt< (Friedländer) -, den inneren Zu-
stand des Malers am Rande des Wahnsinns in einer Art tragischen Selbstbekenntnisses
widerspiegeln.«108
Angesichts der einander widersprechenden Aussagen von Typenmorphologie
einerseits und traditioneller Forschungsmeinung andererseits bemühte sich
Pacht um das Beibringen eines externen Datierungsanhaltes für die Werke der
»ultima maniera«. In Martin Schongauers Kupferstich des Marientodes (Abb.
88)109 glaubte er ihn gefunden zu haben. Auf Grund der engen Verwandt-
schaft dieses in die frühen 1470er Jahre datierten Stiches mit dem Brügger
Marientod billigte Pächt, »... angesichts jeder historischen Erfahrung .. .«110,
die Priorität Hugos Tafelbild zu. Der Brügger Marientod als Insprirations-
quelle Schongauers mußte demnach schon um 1470111 existiert haben.
»Ich glaube, die angeführten Fakten zwingen uns, die Goeschronologie einer radikalen
Revision zu unterziehen. Es erscheint jetzt überflüssig, anzunehmen, daß Goes am
Ende seines Lebens die Figurentypen seiner Bildwelt wieder normalisiert < hat. Statt-
dessen heißt es nunmehr, für die zeitlich obdachlos gewordenen Bilder des Brügger
107 A.a.O., S. 53.
108 A.a.O., S. 47.
109 Bartsch (1808), S. 134f, B. 33; Bernhard (1980), Abb. S. 55.
110 Pächt (1969), S. 57.
111 A.a.O., S. 58. Da Schongauer sich schon 1471 auf Dauer in Colmar niederließ, konnte er nach
Pächts Meinung den Marientod Goes' nur während seiner Wanderschaft in Burgund und den Nie-
derlanden 1469/70 gesehen haben.