Hugo van der Goes und Martin Schongauers Druckgraphik
211
nachfolgende Goes-Forschung dem Problem des Verhältnisses der beiden
Arbeiten zueinander aus. Entweder wurde die Fragestellung, wie etwa bei
Friedländer16, gänzlich negiert, oder aber, so z.B. von Winkler17, vorsichtig
zugunsten der zeitlichen Priorität der Graphik gelöst, ohne eine unmittelbare
Abhängigkeit der Goesschen Formulierung von derjenigen Schongauers zuzu-
lassen. Die dieser Ansicht zugrunde liegende Vorstellung eines grundsätzlich
von West nach Ost, von den Niederlanden nach Deutschland verlaufenden
Einflusses formulierte allein O. Pächt (1969)18 unmißverständlich:
»Destree hat sich offenbar nicht klargemacht, daß der Marientod zu den frühen Kup-
ferstichen Schongauers gehört, und so bestand für ihn kein Anlaß zu zweifeln, daß
das Verhältnis zwischen dem niederländischen Bild und dem deutschen (bildmäßigen)
Stich im Sinne der üblichen Vorbildlichkeit der niederländischen für die deutsche
Kunst als Priorität der Goesschen Erfindung zu deuten sei. Winkler hingegen...
glaubte - entgegen jeder historischen Erfahrung - die Priorität dem deutschen Künst-
ler zuerkennen zu müssen.«
Vor diesem Hintergrund erschien es ihm »absurd«19, eine andere Abhängig-
keit als die Schongauers von Goes anzunehmen. Da sich Schongauer aber im
Anschluß an seine Wanderjahre bereits 1471 in Colmar endgültig niederließ,
betrachtete Pächt dieses Jahr als eindeutigen terminus ante quem für Hugos
Marientod20. Allein J. S. Held (1952, 1955) und C. Minott (1971)21 vermute-
ten in Schongauers Kupferstich die unmittelbare Vorlage für die Brügger Tafel.
Angesichts etwa der von A. Markham Schulz (1971)22 überzeugend nach-
gewiesenen Anregung von Rogiers Columba-Altar (Abb. 86) durch Stephan
Lochners Kölner »Dombild« (Abb. 90)23 wird man die Möglichkeit der Be-
einflußung auch niederländischer durch deutsche Künstler heute wohl weni-
ger entschieden verneinen wollen. Hugos Verwendung des Kupferstichs bei
der Formulierung seiner Marientod-Darstellung erscheint durchaus denk-
16 Friedländer (1926), S. 51.
17 Winkler (1964), S. 80 Ebenso Thompson, Campbell (1974), S. 931, mit der Erwägung wechselseiti-
ger Einflüsse.
18 Pächt (1969), S. 56f.
19 A.a.O., S. 58.
20 Sterling (1973), S. 14-16, datierte Hugos Brügger Marientod unter Berufung auf Pächt in die Jahre
1470-75, während er Schongauers Kupferstich um 1475 datierte. Beide Werke gingen seiner Mei-
nung nach auf eine verlorene Marientod-Darstellung van der Weydens zurück.
21 Julius S. Held, Rezension von A. Janssens de Bisthoven, R. A. Parmentier, Les Primitifs Flamands:
Corpus de la Peinture des Anciens Pays-Bas Meridionaux au Quinzieme Siecle, fasc. 1-4, Le Musee
Communal de Bruges, Anvers 1951; in: College Art Journal 12 (1952), S. 89; derselbe (1955),
S. 232; Minott (1971), S. 38.
22 Anne Markham Schulz, The Columba Altarpiece and Roger van der Weyden's stylistic Develop-
ment; in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. F. , 22 (1971), S. 63-116.
23 Köln, Dom; Eiche, 238,0 x 263,0 cm, Flügel je 234,0 x 118,0 cm; Alfred Stange, Kritisches Verzeich-
nis der deutschen Tafelbilder vor Dürer, Bd. 1, München 1967, S. 42, Nr. 95.
211
nachfolgende Goes-Forschung dem Problem des Verhältnisses der beiden
Arbeiten zueinander aus. Entweder wurde die Fragestellung, wie etwa bei
Friedländer16, gänzlich negiert, oder aber, so z.B. von Winkler17, vorsichtig
zugunsten der zeitlichen Priorität der Graphik gelöst, ohne eine unmittelbare
Abhängigkeit der Goesschen Formulierung von derjenigen Schongauers zuzu-
lassen. Die dieser Ansicht zugrunde liegende Vorstellung eines grundsätzlich
von West nach Ost, von den Niederlanden nach Deutschland verlaufenden
Einflusses formulierte allein O. Pächt (1969)18 unmißverständlich:
»Destree hat sich offenbar nicht klargemacht, daß der Marientod zu den frühen Kup-
ferstichen Schongauers gehört, und so bestand für ihn kein Anlaß zu zweifeln, daß
das Verhältnis zwischen dem niederländischen Bild und dem deutschen (bildmäßigen)
Stich im Sinne der üblichen Vorbildlichkeit der niederländischen für die deutsche
Kunst als Priorität der Goesschen Erfindung zu deuten sei. Winkler hingegen...
glaubte - entgegen jeder historischen Erfahrung - die Priorität dem deutschen Künst-
ler zuerkennen zu müssen.«
Vor diesem Hintergrund erschien es ihm »absurd«19, eine andere Abhängig-
keit als die Schongauers von Goes anzunehmen. Da sich Schongauer aber im
Anschluß an seine Wanderjahre bereits 1471 in Colmar endgültig niederließ,
betrachtete Pächt dieses Jahr als eindeutigen terminus ante quem für Hugos
Marientod20. Allein J. S. Held (1952, 1955) und C. Minott (1971)21 vermute-
ten in Schongauers Kupferstich die unmittelbare Vorlage für die Brügger Tafel.
Angesichts etwa der von A. Markham Schulz (1971)22 überzeugend nach-
gewiesenen Anregung von Rogiers Columba-Altar (Abb. 86) durch Stephan
Lochners Kölner »Dombild« (Abb. 90)23 wird man die Möglichkeit der Be-
einflußung auch niederländischer durch deutsche Künstler heute wohl weni-
ger entschieden verneinen wollen. Hugos Verwendung des Kupferstichs bei
der Formulierung seiner Marientod-Darstellung erscheint durchaus denk-
16 Friedländer (1926), S. 51.
17 Winkler (1964), S. 80 Ebenso Thompson, Campbell (1974), S. 931, mit der Erwägung wechselseiti-
ger Einflüsse.
18 Pächt (1969), S. 56f.
19 A.a.O., S. 58.
20 Sterling (1973), S. 14-16, datierte Hugos Brügger Marientod unter Berufung auf Pächt in die Jahre
1470-75, während er Schongauers Kupferstich um 1475 datierte. Beide Werke gingen seiner Mei-
nung nach auf eine verlorene Marientod-Darstellung van der Weydens zurück.
21 Julius S. Held, Rezension von A. Janssens de Bisthoven, R. A. Parmentier, Les Primitifs Flamands:
Corpus de la Peinture des Anciens Pays-Bas Meridionaux au Quinzieme Siecle, fasc. 1-4, Le Musee
Communal de Bruges, Anvers 1951; in: College Art Journal 12 (1952), S. 89; derselbe (1955),
S. 232; Minott (1971), S. 38.
22 Anne Markham Schulz, The Columba Altarpiece and Roger van der Weyden's stylistic Develop-
ment; in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. F. , 22 (1971), S. 63-116.
23 Köln, Dom; Eiche, 238,0 x 263,0 cm, Flügel je 234,0 x 118,0 cm; Alfred Stange, Kritisches Verzeich-
nis der deutschen Tafelbilder vor Dürer, Bd. 1, München 1967, S. 42, Nr. 95.