STIER. MINOTAUROS 163
durch einen kleinen Ansatz in der linken unteren Ecke festgelegt wird, schreitet, das ent-
gegengestemmte rechte Bein des Ungeheuers durch die blosse Bewegung zurückdrängend,
lebhaft nach rechts und legt seinen linken Arm um den Nacken des Minotauros, nicht um
ihn zu würgen — denn der Unterarm berührt nicht einmal den Hals —, sondern um ihn
am Maul zu fassen, mit dem seine Hand und der halbe Unterarm weggebrochen ist; es ist
klar, dass er durch dieses Manöver den Kopf und damit die Hörner von seiner Brust ablenkt1.
Der rechte Arm ist weit zurückgeworfen und rückte mit der Hand, wie der kleine, auf das.
Handgelenk zu beziehende Ansatz zeigt, dicht an den linken Rand der Metope, vielleicht sogar
etwas über ihn hinaus, holte also mit dem Schwert zum Stosse aus. Der Kopf stand fast im
Profil und unterstützte das unwiderstehliche Vordringen des Helden, indem er die linke Hand
des Minotauros, die sich ihm entgegenstemmt, vielleicht auch ihn im Haare rauft2, zurückdrängt.
Die Frage, wie die höchst künstliche und komplizierte Situation zu Stande gekommen
ist, hat diesmal ganz besondere Bedeutung, weil von der Antwort eine unbefangene Deutung
der von früheren Beurteilern in sehr verschiedenem, von keinem in überzeugendem Sinne auf-
gefassten Komposition abhängt. Mit gesenktem Kopf ist Minotauros dem Jüngling entgegen-
gerannt, um ihm mit seiner einzigen, aber furchtbaren Waffe den Leib aufzuschlitzen:
der Stiermensch benahm sich als Stier, und es ist schwer zu sehen, was der Künstler
Geschickteres hätte ersinnen können, wenn er einen Angriff des Ungeheuers andeuten wollte.
Zugleich aber griff Minotauros mit menschlichen Mitteln an, indem er den rechten oder beide
Arme dem Gegner um den Leib warf, um ihn festzuhalten, bis die Hörner ihn durchbohrten.
Theseus gerät in höchste Gefahr: den vorteilhaften Untergriff hat sich der Angreifer gesichert,
das Schwert kann ihm im Augenblick kaum so gefährlich werden wie dem Angegriffenen die Stier-
hörner. Aber der Held der Palaestra weiss auch der ungünstigen Stellung einen entscheidenden
Vorteil abzugewinnen; von oben weit um den Kopf des Gegners herumgreifend packt er ihn
am Maule und reisst es so weit zurück und nach oben, dass beide Hörner statt gegen seinen
Leib sich in's Leere richten. Minotauros sieht nicht nur seinen Angriff vereitelt, sondern sich
selbst gefesselt; entweder muss er seinen Kopf befreien, um doch noch rechtzeitig den tödlichen
Stoss zu führen, oder er muss sich ganz loswinden, um einen neuen Anlauf unternehmen zu
können. Diese Doppelabsicht bestimmt seine Bewegungen. Noch lässt die rechte Hand den
Leib des Theseus nicht los, den ein einziger glücklicher Ruck des Stierkopfes verderben kann;
zugleich aber arbeitet das Untier mit Hand und Fuss, um von dem nun zum Angreifer
gewordenen Gegner loszukommen. Je mehr Theseus vorrückt, desto mehr verliert diese
Gegenaktion an Wirkung, weil das angestemmte Bein, das nur straff gestreckt etwas aus-
richten könnte, mit jedem Augenblick mehr zusammengebeugt wird. Das alles vollzieht sich
blitzschnell; denn in dem Augenblick, da Theseus den Stierkopf gepackt hat, zückt er auch
das Schwert, das dem Ungeheuer die Brust durchbohren soll.
Wie bei der Periphetesmetope sind wir hier ausschliesslich auf die Reste angewiesen,
da auch das einzige der Metope ähnlich komponierte Vasenbild, das einer Pelike des Museo
Gregoriano3, das Minotauros aufrecht und sein Maul von Theseus umfasst zeigt, nicht entfernt
1 Wulff S. 63.
2 Die Aktion der Linken des Stiermenschen kehrt bei den gleich Stieren anrennenden Kentauren von Phigalia (Overbeck,
Plastik4 Fig. 131, West 5) und Gjölbaschi (Benndorf-Niemann, Heroon Taf. 23, B 3) wieder.
3 Mus. Greg. II 62, 2; Gerhard, A. V. II 161. Müller N. 67. Aehnlich muss Minotauros in den Pariser Fragmenten
(Journ. of Hell. Stud. X Taf. 1) komponiert gewesen sein; doch ist die Rekonstruktion des Gefässes noch sehr unsicher. Die
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durch einen kleinen Ansatz in der linken unteren Ecke festgelegt wird, schreitet, das ent-
gegengestemmte rechte Bein des Ungeheuers durch die blosse Bewegung zurückdrängend,
lebhaft nach rechts und legt seinen linken Arm um den Nacken des Minotauros, nicht um
ihn zu würgen — denn der Unterarm berührt nicht einmal den Hals —, sondern um ihn
am Maul zu fassen, mit dem seine Hand und der halbe Unterarm weggebrochen ist; es ist
klar, dass er durch dieses Manöver den Kopf und damit die Hörner von seiner Brust ablenkt1.
Der rechte Arm ist weit zurückgeworfen und rückte mit der Hand, wie der kleine, auf das.
Handgelenk zu beziehende Ansatz zeigt, dicht an den linken Rand der Metope, vielleicht sogar
etwas über ihn hinaus, holte also mit dem Schwert zum Stosse aus. Der Kopf stand fast im
Profil und unterstützte das unwiderstehliche Vordringen des Helden, indem er die linke Hand
des Minotauros, die sich ihm entgegenstemmt, vielleicht auch ihn im Haare rauft2, zurückdrängt.
Die Frage, wie die höchst künstliche und komplizierte Situation zu Stande gekommen
ist, hat diesmal ganz besondere Bedeutung, weil von der Antwort eine unbefangene Deutung
der von früheren Beurteilern in sehr verschiedenem, von keinem in überzeugendem Sinne auf-
gefassten Komposition abhängt. Mit gesenktem Kopf ist Minotauros dem Jüngling entgegen-
gerannt, um ihm mit seiner einzigen, aber furchtbaren Waffe den Leib aufzuschlitzen:
der Stiermensch benahm sich als Stier, und es ist schwer zu sehen, was der Künstler
Geschickteres hätte ersinnen können, wenn er einen Angriff des Ungeheuers andeuten wollte.
Zugleich aber griff Minotauros mit menschlichen Mitteln an, indem er den rechten oder beide
Arme dem Gegner um den Leib warf, um ihn festzuhalten, bis die Hörner ihn durchbohrten.
Theseus gerät in höchste Gefahr: den vorteilhaften Untergriff hat sich der Angreifer gesichert,
das Schwert kann ihm im Augenblick kaum so gefährlich werden wie dem Angegriffenen die Stier-
hörner. Aber der Held der Palaestra weiss auch der ungünstigen Stellung einen entscheidenden
Vorteil abzugewinnen; von oben weit um den Kopf des Gegners herumgreifend packt er ihn
am Maule und reisst es so weit zurück und nach oben, dass beide Hörner statt gegen seinen
Leib sich in's Leere richten. Minotauros sieht nicht nur seinen Angriff vereitelt, sondern sich
selbst gefesselt; entweder muss er seinen Kopf befreien, um doch noch rechtzeitig den tödlichen
Stoss zu führen, oder er muss sich ganz loswinden, um einen neuen Anlauf unternehmen zu
können. Diese Doppelabsicht bestimmt seine Bewegungen. Noch lässt die rechte Hand den
Leib des Theseus nicht los, den ein einziger glücklicher Ruck des Stierkopfes verderben kann;
zugleich aber arbeitet das Untier mit Hand und Fuss, um von dem nun zum Angreifer
gewordenen Gegner loszukommen. Je mehr Theseus vorrückt, desto mehr verliert diese
Gegenaktion an Wirkung, weil das angestemmte Bein, das nur straff gestreckt etwas aus-
richten könnte, mit jedem Augenblick mehr zusammengebeugt wird. Das alles vollzieht sich
blitzschnell; denn in dem Augenblick, da Theseus den Stierkopf gepackt hat, zückt er auch
das Schwert, das dem Ungeheuer die Brust durchbohren soll.
Wie bei der Periphetesmetope sind wir hier ausschliesslich auf die Reste angewiesen,
da auch das einzige der Metope ähnlich komponierte Vasenbild, das einer Pelike des Museo
Gregoriano3, das Minotauros aufrecht und sein Maul von Theseus umfasst zeigt, nicht entfernt
1 Wulff S. 63.
2 Die Aktion der Linken des Stiermenschen kehrt bei den gleich Stieren anrennenden Kentauren von Phigalia (Overbeck,
Plastik4 Fig. 131, West 5) und Gjölbaschi (Benndorf-Niemann, Heroon Taf. 23, B 3) wieder.
3 Mus. Greg. II 62, 2; Gerhard, A. V. II 161. Müller N. 67. Aehnlich muss Minotauros in den Pariser Fragmenten
(Journ. of Hell. Stud. X Taf. 1) komponiert gewesen sein; doch ist die Rekonstruktion des Gefässes noch sehr unsicher. Die
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