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Schäfer, Heinrich; Frank, Carl; Winter, Franz
Kunstgeschichte in Bildern: neue Bearbeitung; systematische Darstellung der Entwicklung der bildenden Kunst vom klassischen Altertum bis zur neueren Zeit (1): Altertum — 1912

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.49707#0081
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Kretisch-mykenische Kunst.

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So sind auch die Vorhallen und die entsprechend
mitunter angefügten Hinterhallen aus praktischem
Zweck zu erklären, als Verlängerungen zum Schuf,
gegen Regen, desien die Lehmmauern bedurften.
Erst später ist die Vorhalle zum dekorativen Gliede
geworden.
Demgegenüber weisen die zeitlich entsprechenden
kretischen Anlagen eine bereits künstlerisch aus-
gebildete Bauweise auf, woran der hier unmittelbar
wirkende ägyptische Einssuß einen Hauptanteil haben
wird. Die Grundmauern der Gebäude sind aus
wohl behauenen Quadern gefügt, die oberen Teile
aus Brudistein mit Holzfachwerk hergestellt. Holz
ist, wie auch in Troja und Tiryns, für die Sicherung
der Wandstirnen, hier nun aber auch für tragende
Freistütjen, Pfeiler und Säulen, gebraucht. In deren
Anwendung spricht sich die Verschiedenheit und
Überlegenheit gegenüber der so viel primitiveren
trojanischen Bauart am deutlichsten aus. Sie ge-
stattete, die Gebäude in die Breite zu führen, licht
und luftig zu gestalten. So hat denn auch das
Haus hier eine durchaus andere Form (S. 78, 4, 5):
es ist nicht langgestreckt und geschlosien, sondern
im offenen Hallentypus gebildet, den Bedingungen
des Südlichen Klimas angemessen, während die
trojanischen Megara den nordischen Charakter zeigen.
Der Sinn für weite und große Verhältnisie kommt
in den Plafj- und Hofanlagen zum Ausdrude, um
die herum die Gebäude teilweise in mehreren Stock-
werken sich erhoben (S. 77, 4; 80, 5). Erhaltene
Darstellungen von Gebäuden (S. 80) zeigen die Säulen
in ihrer eigentümlichen, aus dem Holzmaterial er-
klärlichen Bildung mit nach oben sich verbreiterndem
Schaft und geben eine Andeutung von den ange-
wendeten Schmuckformen und der Dekoration. In
den hier offenen lichten Räumen konnte sich auch
eine dekorative Innenausstattung entfalten. Sie war
großenteils in Wandmalerei ausgeführt, von der in
Knosos und Hagia Triada bedeutende und zahl-
reiche Reste wiedergefunden sind (S. 80, 7. 9. 11;
84, 10; 85, 13; 87, 15; 88, 5; 89, 1; 91, 3. 4;
92, 4. 5); neben der Malerei ist auch bemaltes
Stuckrelief verwendet worden (S. 87, 4; 91, 5.
Die Hauptfundstätten in Kreta, an denen größere
Palastanlagen aufgedeckt worden sind, sind Knosos
im Norden und Phaestos mit dem nahe gelegenen
Hagia Triada im Süden der Insel. Die Anlagen erheben
sich über einer tiefsten, wie in Troja neolithischen
Schicht und flammen in ihren aus mehrfachen Um-
und Neubauten herrührenden Resten aus mehreren
Perioden her, deren zwei frühere sog. mittel-

minoische der XII. und XIII. ägyptischen Dynastie
gleichzeitig und der zweiten Schicht von Troja ent-
sprediend in die erste Hälfte des zweiten Jahr-
tausends, deren letjte »spätminoische« mit der
XVIII. Dynastie zusammenfallend in die Zeit nach
1500 fällt.
Noch in der letzteren mittelminoischen Periode
hat sich die kretische Kunst nordwärts über Thera
und Melos nach Griechenland verbreitet, die frühe-
sten Zeugnisse ihres Eindringens erkennen wir in
den kretischen Importstücken (z. B. den Dolchklingen
Tafel bei S. 84 und S. 84,11, dem Taubenhaus S. 92, 6),
die neben einheimischer Ware in den Schachtgräbern
von Mykenae (S. 86) enthalten sind. In der folgen-
den, der ersten »spätminoischen« Periode Kretas ent-
sprechenden Zeit ist dann ihr Einfluß voll durchge-
drungen. Aus dieser Zeit rührt die in den erhalte-
nen Resten überlieferte bauliche Neugestaltung der
Burg von Tiryns und Mykenae her. In ihr ist die
Bauart, wie sie uns aus der zweiten Schicht von Troja
bekannt ist, bewahrt, aber das Alte ist bereichert durch
die aus Kreta überkommenen Kunstformen: Im Me-
garon von Tiryns (S. 78, 7) finden wir den Grundriß
der trojanischen Megara wieder mit der Erweiterung
durch eine zweite Vorhalle und der Bereicherung
durch Pfeiler und Säulen. Es sind die Motive der
kretischen Hallenbauten, die hier auf den alten
Megarontypus übertragen sind. Mit der Säule, die
wie am Megaron nun auch an den Toren Anwendung
gefunden hat, ist zugleich die Innendekoration von
Kreta herübergenommen. Sie ist in Resten von
Wandmalerei in Mykenae (S. 94, 18) und Tiryns
(S. 89, 2, Athen. Mitt. 1910) und in einem Stück
Alabasterfries von Tiryns (S. 79, 8) erhalten.
Auch die Anlagen der Kuppelgräber (S. 81),
die in dieser Periode in Griechenland aufkommen
und in weiter Verbreitung erscheinen (außer in der
Argolis in Lakonien, Attika, Boeotien, Thessalien,
vgl. Perrot-Chipiez VI 434ff. Ephemeris arch. 1906.
Athen. Mitt. 1909), gehen wahrscheinlich auf Kreta
zurück, wo der Typus durch zwei Gräber bei Hagia
Triada und in Isopata (Dussaud, Civilisations pre-
helleniques S. 29, Ost. Jahresh. 1907, 76) schon in
mittelminoischer Zeit vertreten ist. In ihnen fand
die mykenische Kunst eine Aufgabe, zu der sie, von
Anfang an in der Steinarbeit und in der Bewäl-
tigung schwerer Masien geübt und darauf gerichtet,
die architektonische Wirkung in der Stärke und
Wucht zu suchen, wie auf keine andere vorbereitet
war, und sie hat sich in den bedeutendsten Werken
dieser Art, wie dem sog. Schatyhaus des Atreus, zu
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