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Schäfer, Heinrich; Frank, Carl; Winter, Franz
Kunstgeschichte in Bildern: neue Bearbeitung; systematische Darstellung der Entwicklung der bildenden Kunst vom klassischen Altertum bis zur neueren Zeit (1): Altertum — 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.49707#0229
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GRIECHISCHE SKULPTUR
DER ARCHAISCHEN ZEIT
von Professor Dr. Franz Winter

Mit dem Beginne der Koloniengründungen er-
blüht in Griechenland, langsam zunächst, dann
mit dem wachsenden Verkehr und Wohlstand er-
starkend, ein neues Kunstleben. In ihm bereitet
sich die Entwicklung vor, die im sechsten Jahrhundert
zu einem Höhepunkte gelangte unter der Förderung,
die die gesteigerte Lebensführung an den Tyrannen-
höfen — wie einst an den mykenischen Herrensitjen
— und die Ausgestaltung des Kultus, vor allem
an den jetjt zu nationalen Vereinigungsstätten sich
erhebenden großenHeiligtümern, allem künstlerischen
Schaffen brachte. Der entscheidende Ausschwung
erfolgte gegen Ende des siebenten Jahrhunderts.
Von da an sehen wir die Künstler als Persönlich-
keiten hervortreten und sich zur Geltung bringen,
indem sie die Werke mit ihren Namen versehen.
Damit beginnt für uns eine urkundlich gesieberte
Kenntnis der Kunstgeschichte. Die literarische Über-
lieferung des Altertums gibt von der Wende des
siebenten und sechsten Jahrhunderts an eine wenn
auch nur sehr lückenhafte, doch zusammenhängende
Darstellung des Verlaufes.
Von dieser Zeit an datiert die uns bekannte
Entwicklung der Skulptur. Die kretisch-mykenische
Kunst hatte von plastischer Arbeit im Großen nur
die Reliefbildnerei und diese nur gewisiermaßen als
Abart der damals überwiegenden Malerei gepflegt,
in der folgenden geometrischen Epoche war auch sie,
wie es scheint, außer Übung gekommen. Jetjt trat
neben der von neuem auflebenden Reliefkunst
die Freiplastik auf den Plan. Die allenthalben
erstehenden Tempel, die in den Giebeln, Metopen
und Triesen Raum für bildlichen Schmuck boten,
verlangten die Bilder der Gottheiten, deren langer
Werdeprozeß, aus dem sie als Persönlichkeiten in
Menschengestalt hervorgingen, nun zum Abschluß
gekommen war, und die Bezirke der Heiligtümer
füllten sich mit statuarischen Votivbildern, wie die
Feststätten der nationalen Spiele, die für die Kunst
und insbesondere für die Skulptur von ähnlicher
Bedeutung wurden, wie das religiöse Leben der
Zeit. Und auch für den Grabschmuck, der jetjt
seine Veredelung durch künstlerische Form erhielt.

kam die statuarische Darstellung neben der weniger
anspruchsvollen Reliefstele in Anwendung.
Götterbild, Votivstatue, Siegerfigur und Grab-
figur stellten der Plastik dieselbe scheinbar so ein-
fache, in Wirklichkeit so unendlich schwierige Auf-
gabe, die menschliche Gestalt in ihrer äußeren
körperlichen Erscheinung nachzubilden. Für die
ersten, über die primitive Unbeholfenheit hinaus-
strebenden Verbuche war auch jetjt wieder die ägyp-
tische Kunst hilfreich, deren fest ausgebildete Typen
der slehenden und thronenden Figur die griechische
Kunst sich zu Nutje machte, um Schritt für Schritt
selbständig und in ausdauerndem Vorwärtsdringen
zu einer Bewältigung der Naturwiedergabe zu ge-
langen. Hier war nicht der Anfang das Schwerste,
sondern die Schwierigkeiten wuchsen mit jedem
Schritte, der dem beharrlich verfolgten Ziele näher
führte. Die griechische Kunst hat mehr als hundert
Jahre gebraucht, um das Ziel zu erreichen, sie hat
sich während dieses Zeitraums, der sogenannten
archaischen Periode, lediglich um die äußere Form
bemüht. Erst nachdem sie diese bemeistert hatte,
hat sie den großen Schritt über die Wiedergabe
des Körperlichen hinaus zur Darstellung des Ethos,
des Innerlichen getan.
Die griechische Kunst hat in der Verwendung
des Marmors ihr Eigenstes. Nicht etwa ist die
Plastik in Griechenland dadurch erst hervorgerufen.
Die Holzschnitjerei und die Arbeit in Kalkstein ist
der in Marmor vorausgegangen und hat mit einer
bestimmten Weise der Formengestaltung, die sich
wesentlich aus der einfachsten Handhabung der in
diesen Stoffen hauptsächlich angewendeten Instru-
ment?, des Meilers und der Säge, herausbildete,,
anfangs noch in die Marmorbildnerei hineingewirkt,
an den verschiedenen Stellen verschieden stark und
lange, wie denn auch in manchen Gegenden, wo
Marmor schwer zu beschaffen war, so in Sizilien
und Unteritalien, die Kalksteinplastik als die vor-
wiegend geübte fortbessanden hat.1) Der erste
Marmorbetrieb hat sich gegen oder um 600 auf
') Unter den Abbildungen ist das Material nur dann
besonders angegeben, wenn es nicht Marmor ist.
 
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