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Schäfer, Heinrich; Frank, Carl; Winter, Franz
Kunstgeschichte in Bildern: neue Bearbeitung; systematische Darstellung der Entwicklung der bildenden Kunst vom klassischen Altertum bis zur neueren Zeit (1): Altertum — 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.49707#0328
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GRIECHISCHE SKULPTUR
DES VIERTEN JAHRHUNDERTS
Von Professor Dr. Franz Winter.

In der Epoche, die wir als die des vierten Jahr-
hunderts bezeichnen, hat Athen seine früher ge-
wonnene Stellung als Mittelpunkt eines reichsten
künstlerischen Lebens behauptet. Viele der in der
literarischen Überlieferung gerühmten Bildhauer
sind aus der attischen Kunst hervorgegangen oder
wenigstens zu ihr in Beziehung gewesen. Hinter
ihr ist die sikyonisch-argivische Schule, wie es
scheint, eine Zeitlang zurückgetreten, um dann mit
Lysipp wieder zu um so größerem Ansehen und
zu überragender Geltung zu gelangen. Audi dieser
Meister gehört seiner Lebenszeit nach dem vierten
Jahrhundert an. Aber seinem Schaffen nach ge-
bührt ihm der Platj mehr als innerhalb des Zu-
sammenhangs der Entwicklung, die in diesem Hefte
zur Darstellung gebracht werden soll, an der Spitje
der neuen, mit dem Auftreten Alexanders des
Großen beginnenden Zeit des Hellenismus.
Aus den Schriflstellernadiriditen erfahren wir
von einer großen Zahl von Künstlern, und wertvolle
Angaben geben über die Werke und die Kunstart
nicht weniger unter ihnen bestimmtere Kunde. In
viel weiterem Umfang, als für die Meister des
fünften Jahrhunderts, verbinden lieh mit diesen
Nachrichten erhaltene Werke der Künstler selbst.
Vor allem aber sind es nicht nur in späteren Ko-
pien, sondern auch in Originalausführung erhaltene
Werke, aus denen wir eine unmittelbare, lebendige
und sichere Vorstellung von der Kunst mehrerer
und gerade namhaftester Bildhauer gewinnen. Von
Praxiteles, Skopas, Timotheos, Leochares und Bryaxis
besi^en wir eigenhändige Arbeiten (S. 294, 1. 2;
296, 1-3; 298, 1-7; 300, 2-4. 10; 302-305)
und von ihnen allen, außer von Bryaxis, sind andere
Werke in sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit
wiedererkannten Nachbildungen erhalten. Aus der
Reihe der übrigen kennen wir Kephisodot, den
Vater des Praxiteles, aus einer Kopie seiner Gruppe
der Eirene mit dem Plutosknaben (S. 293, 3),
Silanion aus Wiederholungen des Platonporträts
(S. 317, 2). Anderen Künstlern dagegen, wie na-
mentlich Euphranor und den sikyonischen Meistern
der polykletischen Schule hat sich bisher nur mit
mehr oder weniger wahrscheinlichen Vermutungen
näher kommen laßen. Auf Euphranor, an dem
die Überlieferung ein so vielseitiges wie bedeu-
tendes und eigenartiges Schaffen rühmt, ist u. a.
die als Perseus gedeutete Bronzestatue S. 310, 4,

auf den Sikyonier Daidalos die schöne, ebenfalls
in Bronze ausgeführte Figur des Schabers S. 311, 5
bezogen worden.
Was für die älteste und jüngste Epoche der
griechischen Skulptur, die archaische und die helle-
nistische, nur ganz unvollkommen, auch für das
fünfte Jahrhundert nur in sehr beschränkten Grenzen
gelingt, ist für diese Zeit wirklich möglich, eine
Darstellung des Verlaufs im Bilde des Schaffens
der einzelnen hervorragenden künstlerischen Per-
sönlichkeiten. In dem Maße, wie uns deren indi-
viduelle Eigenart verständlich wird, nimmt das Per-
sönliche in der Aufhaltung und in den Leistungen
hier unser Interesie vorwiegend in Anspruch.
Die Kunst des vierten Jahrhunderts ist — ähn-
lich wie die italienische Kunst des Cinquecento —
gekennzeichnet durch eine große Bereicherung der
Kunstmittel und der Aufgaben. Hiermit im Zu-
sammenhange treten zwei Haupterscheinungen her-
vor: wir sehen einerseits die frühere Entwicklung
zu einem Höhepunkte und Abschluß geführt und
verfolgen andererseits ein auf neuen Bahnen vor-
wärts drängendes, eine neue Entwicklung vorberei-
tendes Schaffen. Die eine Richtung hat in Praxi-
teles, die andere in den Künstlern des Mausoleums
von Halikarnaß ihre bedeutendsten Vertreter.
Praxiteles gehörte einer angesehenen atheni-
schen Familie an, in der der Bildhauerberuf durch
mehrere Generationen von den Vätern auf die
Söhne vererbt worden ist. In ihm hat dieses
Künstlergeschlecht seinen höchsten Ruhm erreicht.
Er war der Sohn des Kephisodot, delsen um 375
geschaffene madonnenhafte Statue der Friedens-
göttin mit dem Plutosknaben (S. 293, 3) in dem
sinnigen Ernst und der feierlichen Ruhe der Ge-
staltung noch so ganz aus dem Geiste der Phidias-
schule hervorgegangen erscheint, wie wir die Kunst
des Parthenonfrieses in den anspruchsloseren Ar-
beiten der attischen Marmorwerkstätten, vor allem
in den Votivreliefs (vgl. S. 293, 1; 313, 1. 2;
316, 2) fortleben und in Nachklängen auch in
volleren und reicheren Darstellungen (vgl. S. 293, 2;
308,4) weiterwirken sehen. Das persönliche Ver-
hältnis des Praxiteles zu Kephisodot und der all-
gemeinere Zusammenhang mit der Tradition der
attischen Kunst kommt in der im Original uns er-
haltenen Statue des Hermes mit dem Dionysos-
knaben (S. 294, 1. 2; 295, 1) zu deutlichstem Aus-
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