Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Schleicher, August
Die deutsche Sprache — Stuttgart: J. G. Cotta'scher Verlag, 1860

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.61330#0078
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
6(> Functionsveränderung. Ersatz verlorener Formen.
der Sprache, sondern auch in der Periode des Alterns, der Sprache
innerster Kern, von dessen Leben das Gedeihen und die Erhaltung
des Lautleibes abhängt. Die Veränderungen, die mit der Function
der Sprachen im Laufe der Zeit vorgehen, sind also eben so be-
deutend, eben so weit greifend, als die ihr zur Seite gehende Ver-
änderung der lautlichen Form.
Die wichtigste dieser Veränderungen ist ohne Zweifel die be-
reits hervorgehobene. Die Function der Beziehungslaute im Ge-
gensätze zu der des Bedeutungslautes wird nicht mehr empfunden,
sie erlischt mehr und mehr, die Worte werden nur als solche im
Ganzen gefühlt.
Nach welchen Gesetzen sich die Function der Worte selbst im
Laufe der Zeit verändert, dieß zu erforschen, d. h. aus der Masse
der Einzelnbeobachtungen das Gesetz zu finden, ist eine noch nicht
ernstlich in die Hand genommene Ausgabe unserer Disciplin, deren
Lösung allerdings auf große Schwierigkeiten stoßen dürfte. Leider
kann ich diesen wichtigen Theil der Sprachengeschichte auch nicht in
den allgemeinsten Umrissen andeuten.
Eine andere, Angesichts der geschilderten Sprachzersetzung sich
leicht aufdrängende Frage ist folgende: vermag die Sprache eine
so große Einbuße an Formen zu ertragen? Ersetzt sie vielleicht
das auf der einen Seite verlorene auf eine andere Weise wieder?
Beide Fragen sind bedingungsweise niit ja zu beantworten. Aller-
dings vermag sich die Sprache mit. einer sehr geringen Anzahl
grammatischer Formen vollkommen gut zu behelfen, sie kann ja,
wie wir bei den isolirenden Sprachen fanden (Classe I), aller gram-
matischen Formen entrathen; aber es stehen den späteren Sprachen
auch noch Mittel zu Gebote, die erlittene Einbuße an grammatischen
Formen theilweise wenigstens zu ersetzen. Diese Mittel sind Zu-
sammensetzung von Worten und Umschreibung. Das letztere
ist syntactischer Art und bei der Geschichte des Satzbaues zu be-
sprechen. Bleiben wir bei der Zusammensetzung einen Augenblick
stehen. Es ist das einzige Mittel der Wortbildung, das in spä-
teren Lebensepochen der Sprache noch zu Gebote steht. Neue Casus-,
Modus- und Personalendungen, neue Nominal- und Verbalbildungs-
weisen anstatt der verlorenen können nicht wieder hervorsprossen;
der Stoff, aus dem die Sprache in vorhistorischer Zeit ihre wort-
bildenden Elemente nabm, jene noch nackten Wurzeln allgemeinerer
 
Annotationen