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Schliemann, Heinrich; Schliemann, Sophia [Hrsg.]
Heinrich Schliemann's Selbstbiographie — Leipzig, 1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.967#0007
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2 I. Kindheit und kaufmännische Laufbahn: 1822—1866.

Ich wurde am 6. Januar 1822 in dem Städtchen Neu-Buckow
in Mecklenburg-Schwerin geboren, wo mein Vater, Ernst Schlie-
mann, protestantischer Prediger war und von wo er im Jahre
1823 in derselben Eigenschaft an die Pfarre von Ankershagen,
einem in demselben Grossherzogthum zwischen Waren und Penzlin
belegenen Dorfe, berufen wurde. In diesem Dorfe verbrachte ich
die acht folgenden Jahre meines Lebens, und die in meiner Natur
begründete Neigung für alles Geheimnissvolle und Wunderbare
wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt, zu einer
wahren Leidenschaft entflammt. In unserm Gartenhause sollte
der Geist von meines Vaters Vorgänger, dem Pastor von Russdorf,
«umgehen»; und dicht hinter unserm Garten befand sich ein kleiner
Teich, das sogenannte «Silberschälchen», dem um Mitternacht eine
gespenstische Jungfrau, die eine silberne Schale trug, entsteigen
sollte. Ausserdem hatte das Dorf einen kleinen, von einem Graben
umzogenen Hügel aufzuweisen, wahrscheinlich ein Grab aus heid-
nischer Vorzeit, ein sogenanntes Hünengrab, in dem der Sage
nach ein alter Raubritter sein Lieblingskind in einer goldenen
Wiege begraben hatte. Ungeheuere Schätze aber sollten neben
den Ruinen eines alten runden Thurmes in dem Garten des Guts-
eigenthümers verborgen liegen; mein Glaube an das Vorhanden-
sein aller dieser Schätze war so fest, dass ich jedesmal, wenn ich
meinen Vater über seine Geldverlegenheiten klagen hörte, ver-
wundert fragte, weshalb er denn nicht die silberne Schale oder
die goldene Wiege ausgraben und sich dadurch reich machen
wollte? Auch ein altes mittelalterliches Schloss befand sich in
Ankershagen, mit geheimen Gängen in seinen sechs Fuss starken
Mauern und einem unterirdischen Wege, der eine starke deutsche
Meile lang sein und unter dem tiefen See bei Speck durchführen
sollte; es hiess, furchtbare Gespenster gingen da um, und alle
Dorfleute sprachen nur mit Zittern von diesen Schrecknissen.
Einer alten Sage nach war das Schloss einst von|einem Raubritter,
Namens Henning von Holstein, bewohnt worden, der, im Volke
«Henning Bradenkirl» genannt, weit und breit im Lande ge-
fürchtet wurde, da er, wo er nur konnte, zu rauben und zu
plündern pflegte. So verdross es ihn denn auch nicht wenig, dass
 
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