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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0243
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Textile Kunst. Processe. Sticken.

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jetzt Gegebene zu der Lösung einer analogen Aufgabe in An-
satz zu bringen haben, endlich beweisen, dass alle technischen,
mechanischen und ökonomischen Mittel, die wir erfanden und vor
der Vergangenheit voraushaben, eher zur Barbarei zurückführen
als den Fortschritt der wahren Kunstindustrie und zugleich der
Civilisation im Allgemeinen bezeichnen, so lange es nicht gelang,
diese Mittel im künstlerischen Sinne zu bemeistern! Das, unter
vielem unberührt Gebliebenen, sind die Sätze, über welche ein
Professor der Webekunst in theoretischem und praktischem Unter-
richte zu lehren hat.
§• 55.
Der Stich, das Sticken, acu pingere, pinsere, pungere, ygdtpecv.
Das Sticken ist ein Aneinanderreihen von Fäden die man mit
Hülfe eines spitzen Instruments auf eine natürliche oder künst-
lich produzirte geschmeidige und weiche Fläche heftet; die Ele-
mente der auf diesem Wege hervorgebrachten Zeichnungen
heissen Stiche und sind mit den Einheiten, (tesserae, cru-
stae,) womit die Mosaike zusammengesetzt sind, vergleichbar;
die Stickerei ist in der That eine Art Mosaik in Fäden,
wodurch ihr allgemeiner Charakter und ihr Verhältniss zu der
Malerei und Sculptur festgestellt ist. So wie durch Mosaik
nicht lediglich Flächendarstellungen sondern auch Reliefdarstel-
lungen hervorgebracht wurden und es keineswegs entschieden ist
welcher von beiden das Recht der Anciennität zuzuerkennen sei,1
ebenso gibt es Reliefstickereien und F lach Stickereien,
die beide nach verschiedenen, von einander ganz unabhängigen
Prinzipien der Ausführung entstehen.
Dieser Gegensatz gibt sich schon in der Form und der Bil-
dung der Stiche zu erkennen, die bei der Produktion der einen und
der andern Gattung von Stickerei die generirenden Elemente sind.
1 Die ältesten Mosaike sind vielleicht die zu Wurka gefundenen Mauerde-
korationen, die zugleich reliefartige Vorsprünge bilden.— Unter den griechisch-
römischen Mosaiken zeigen gerade die Reliefmosaike den unverkennbar altern
griechischen Stil; äusser dem Mosaikboden im Pronaos des Zeustempels zu
Olympia und einigen Bruchstücken unsichern Alters sind alle eigentlichen Mo-
saikgemälde aus später römischer Zeit.
Vergl. Rochette Peintures antiques ined. p. 393 sqq.
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