Textile Kunst. Proces-se. Sticken.
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keit den Eckel zu erwecken. Die mittelalterlichen Stickereien
und gewirkten Stoffe, vorzüglich diejenigen die im 14. und 15.
Jahrhundert in Italien und in den übrigen europäischen Fabriken
gemacht wurden, sind häufig mit diesem Stilfehler behaftet; man
sieht Engelgruppen die einen Kelch halten, Madonnen und alle
Heiligen, auch sonstige mystische Symbole in regelmässigen Ab-
ständen und steter Wiederholung über die Fläche zerstreut und —
an die Stelle der alten Fabelbestien Asiens gesetzt, deren orna-
mentale Wiederholung wir uns fast leichter gefallen lassen. Diesen
gothischen Unsinn sollen wir, so will es eine kleine aber mäch-
tige Partei, heutzutage wieder aufnehmen ; aber wir lassen uns
über ihre keineswegs rein ästhetischen Tendenzen nicht täuschen,
sondern bleiben wahrlich sogar lieber bei unsern Malakoffthürmen,
Sonnentempeln und sonstigen Tapetenmotiven die nicht geschmack-
aber harmloser sind. Diese tendenziöse Monotonie ist absolut ver-
werflich, bei Handstickereien, wo sie vermieden werden kann, bei
gewebten Stoffen und Tapeten wo sie unvermeidlich ist so wie
man tendenziös sein will.
Die leichtere Kunst des Kanevasstickens ist bei unseren
Damen (namentlich für Wollstickerei) die gewöhnlichste und
beliebteste. Was die zuerst genannte Stickerei charakterisirt
ist für diese letztere stillos, aber eben desshalb verfällt unser
verschrobener Geschmack auf die Darstellung der abenteuerlich-
sten Naturnachahmungen in freiester Anordnung mit wild natura-
listischer Auffassung gerade bei einer Technik die das Gegentheil
von allem diesem will. Es wäre vergeblich darüber sich zu er-
eifern, die Stickmusterzeichnung ist einmal in schlechten Händen
und schwerlich würde ein achter Künstler heutzutage sein Glück
machen der, wie jener alte wackere Kupferstecher Siebmacher,
ein wahres Musterbuch für Stfameistickerei herausgäbe.1 •—
Doch gehörte dieser Meister, so wie seine Kollegen Altdorfer,
Aldegrever, Pens, Beham, Virgilius Solis, Theodor de Bry, Jean
Collaert, Etienne de Laulne genannt Stephanus, Peter Woeiriot und
die anderen petits maitres schon einer Zeit an in welcher die aus-
übenden Techniker nicht mehr wie früher sich selbst ihre Kom-
1 Siebmachers Gompositionens ind zum Theil in Reynards Reproduktionen
der Kleinmeister wiedergegeben. Sie sollte ein Modejournalist benützen oder
noch besser kopiren und seinen Abonnentinnen statt der schlechten Sachen
die man letztem jetzt bietet vorlegen.
Semper. 26
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keit den Eckel zu erwecken. Die mittelalterlichen Stickereien
und gewirkten Stoffe, vorzüglich diejenigen die im 14. und 15.
Jahrhundert in Italien und in den übrigen europäischen Fabriken
gemacht wurden, sind häufig mit diesem Stilfehler behaftet; man
sieht Engelgruppen die einen Kelch halten, Madonnen und alle
Heiligen, auch sonstige mystische Symbole in regelmässigen Ab-
ständen und steter Wiederholung über die Fläche zerstreut und —
an die Stelle der alten Fabelbestien Asiens gesetzt, deren orna-
mentale Wiederholung wir uns fast leichter gefallen lassen. Diesen
gothischen Unsinn sollen wir, so will es eine kleine aber mäch-
tige Partei, heutzutage wieder aufnehmen ; aber wir lassen uns
über ihre keineswegs rein ästhetischen Tendenzen nicht täuschen,
sondern bleiben wahrlich sogar lieber bei unsern Malakoffthürmen,
Sonnentempeln und sonstigen Tapetenmotiven die nicht geschmack-
aber harmloser sind. Diese tendenziöse Monotonie ist absolut ver-
werflich, bei Handstickereien, wo sie vermieden werden kann, bei
gewebten Stoffen und Tapeten wo sie unvermeidlich ist so wie
man tendenziös sein will.
Die leichtere Kunst des Kanevasstickens ist bei unseren
Damen (namentlich für Wollstickerei) die gewöhnlichste und
beliebteste. Was die zuerst genannte Stickerei charakterisirt
ist für diese letztere stillos, aber eben desshalb verfällt unser
verschrobener Geschmack auf die Darstellung der abenteuerlich-
sten Naturnachahmungen in freiester Anordnung mit wild natura-
listischer Auffassung gerade bei einer Technik die das Gegentheil
von allem diesem will. Es wäre vergeblich darüber sich zu er-
eifern, die Stickmusterzeichnung ist einmal in schlechten Händen
und schwerlich würde ein achter Künstler heutzutage sein Glück
machen der, wie jener alte wackere Kupferstecher Siebmacher,
ein wahres Musterbuch für Stfameistickerei herausgäbe.1 •—
Doch gehörte dieser Meister, so wie seine Kollegen Altdorfer,
Aldegrever, Pens, Beham, Virgilius Solis, Theodor de Bry, Jean
Collaert, Etienne de Laulne genannt Stephanus, Peter Woeiriot und
die anderen petits maitres schon einer Zeit an in welcher die aus-
übenden Techniker nicht mehr wie früher sich selbst ihre Kom-
1 Siebmachers Gompositionens ind zum Theil in Reynards Reproduktionen
der Kleinmeister wiedergegeben. Sie sollte ein Modejournalist benützen oder
noch besser kopiren und seinen Abonnentinnen statt der schlechten Sachen
die man letztem jetzt bietet vorlegen.
Semper. 26