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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0282
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232

Viertes Hauptstück.

§• 61-
Stoffe zu bildlicher Benützung bei monumentalen Zwecken.
Dass die Technik, welche seit den frühesten Erinnerungen
des Menschengeschlechts zu Raumesabschlüssen vorzugsweise in
Anwendung kam und die noch immer gleiche Zwecke erfüllt
wo jenen frühesten Zuständen der Gesellschaft ähnliche Verhält-
nisse fortbestehen oder eintreten, die Technik von welcher die
verhüllte, d. h. von aller materiellen und äusserlich demonstrativen Kundgebung-
seines ausserbildlichen religiös-symbolischen Wesens befreite. Daher treten
seine Götter uns entgegen, begeistern sie uns, einzeln und im Zusammenwirken,
zunächst und vor allen Dingen als Ausdrücke des rein menschlich Schönen
und Grossen. „Was war ihm Hekuba?“ Aus demselben Grunde konnte auch
das Drama nur im Beginnen und auf dem höchsten Gipfel der steigenden
Bildung eines Volks Bedeutung haben. Die ältesten Vasenbilder geben uns
Begriffe von den frühen materiellen Maskenspielen der Hellenen — in ver-
geistigter Weise, gleich jenen steinernen Dramen des Phidias , wird durch
Aeschylos, Sophokles, Euripides, gleichzeitig durch Aristophanes und die übri-
gen Komiker das uralte Maskenspiel wieder aufgenommen, wird das Pro-
skenion zum Rahmen des Bildes eines grossartigen Stückes Menschengeschichte,
die nicht irgendwo einmal passirt ist, sondern die überall sich ereignet, so
lange Menschenherzen schlagen. „Was war ihnen Hekuba?“ Maskenlaune
athmet in Shakespears Dramen ; Maskenlaune und Kerzenduft, Karnevalsstim-
mung, (die wahrlich nicht immer lustig ist,) tritt uns in Mozarts Don Juan
entgegen; denn auch die Musik bedarf dieses Wirklichkeit vernichtenden
Mittels, auch dem Musiker ist Hekuba nichts, — oder sollte sie es sein.
Das Maskiren aber hilft nichts, wo hinter der Maske die Sache un-
richtig ist oder die Maske nichts taugt; damit der Stoff, der unentbehr-
liche, in dem gemeinten Sinne vollständig in dem Kunstgebilde vernichtet sei,
ist noch vor allem dessen vollständige Bemeisterung vorher nothwendig. Nur
vollkommen technische Vollendung, wohl verstandene richtige Behandlung des
Stoffs nach seinen Eigenschaften, vor allem aber Berücksichtigung dieser
letzteren bei der Formengebung selbst, können den Stoff vergessen machen,
können das Kunstgebilde von ihm ganz befreien, können sogar ein einfaches
Naturgemälde zum hohen Kunstwerk erheben. Diess sind zum Theil Punkte,
worin des Künstlers Aesthetik von den Symbolikern und auch von den Idea-
listen nichts wissen will, gegen deren gefährliche Doctrinen Rumohr, der jetzt
von unsern Aesthetikern und Kuustgelehrten nicht mehr genannte Rumohr,
mit Recht in seinen Schriften zu Felde zog.
Wie auch die griechische Baukunst das Gesagte rechtfertige, wie in ihr
das Prinzip vorwalte das ich anzudeuten versuchte, wonach das Kunstwerk
in der Anschauung die Mittel und den Stoff vergessen macht womit und wo-
durch es erscheint und wirkt, und sich selbst als Form genügt, dieses nafti-
zuweisen ist. die schwierigste Aufgabe der Stillehre.
Vergl. Lessing, Hamburg. Dramaturgie 21stes Stück und passim.
 
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