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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0556
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508

Viertes Hauptstück.

Netzwerk von Gewölbribben aufgelöst wird, die zugleich senk-
recht und horizontal auf nur einzelne Punkte der Mauer wirken,
verlangt das Auge, sowie die Statik, sofort Gegenstützen.
Der gothische Baustil hat die eine Hälfte des Problemes, die
mechanische nämlich, durch die von Aussen gegen die Mauer ge-
stützten Strebepfeiler und Schwibbögen nur zu rücksichtslos und
hausbacken gelöst. Dagegen ist er die Lösung der ästhetischen
Hälfte desselben schuldig geblieben; er lässt nicht nur das Auge
unbefriedigt, dort wo der Seitenschub der Gewölbribben wahr-
nehmbar wird, nämlich in dem Innern der überwölbten Räume,
wo die äusseren Gegenstreben nicht sichtbar sind und jedes un-
befangene Auge sich durch deren Abwesenheit und das einseitige
Wirken der Gewölbribben nach Aussen gegen einen Pfeiler dessen
Stärke innerlich ungesehen bleibt, der scheinbar zu schwach ist,
geängstigt fühlen muss ; er verletzt das ästhetische Gefühl auch
äusserlich durch übermächtiges rein technisches Pfeiler- und
Schwibbogenwerk, das gegen etwas wirkt was äusserlich gar
nicht gesehen wird und in formaler Beziehung daher auch gar
nicht existirt. Denn das ästhetische Auge trägt zwar räumliche
Eindrücke mit Leichtigkeit über von früher zu nachher Gesehenem
aber statische Ergänzungen des Gesammteindruckes durch noch
nicht oder nicht mehr gesehenes Gegenwirken von Massen sind
nicht statthaft. Diess erklärt sich ganz einfach dadurch, dass ein
halbes statisches System nichts Ganzes für sich bildet und eigent-
lich gar nicht existenzfähig ist, dass dagegen ein Raum, z. B. ein
Vestibulum, das mit dem Peristyl des Hofes, sodann mit der nach-
her zu ersteigenden Treppe, der oberen Loggia und dem Vor-
saale, in welchen diese führt, eine harmonisch wirkende Gesammt-
heit bildet, auch für sich allein ein abgeschlossenes Ganzes ist.
Viel schöner ist diese Aufgabe z. B. gelöst in den grossartigen mit
Kreuzgewölben überspannten Hauptsälen der römischen Thermen,
wo das Widerlager und zugleich die senkrechte Stütze der Wölb-
decke durch vor die inneren Wände gestellte Säulen, deren Ge-
bälk in die Mauer eingreift und den Seitenschub aufnimmt, zu-
gleich mechanisch und ästhetisch befriedigend vertreten sind.
Durch diese Säulenstützen in dem Inneren der Räume für die
Decke wird zugleich dem alten indogermanischen Grundsätze,
dass die Mauer nicht tragen sondern nur umschliessen soll, Ge-
nüge gethan, und letztere in dieser Beziehung von dem Gewölbe-
 
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